Nach sinnlos vertanen Monaten, gefühlten Jahren, am Morgen irgendeines Tages – er war, in die Betrachtung des Bildes vertieft, im Atelier auf der Couch eingeschlafen, die Nacht hatte Dunkelheit gebracht und der Anblick Isis’ ihm auf eine seltsam reflektierende Weise bewusst gemacht, dass sein Weg vorgezeichnet war – besann Balder sich auf das klinische Dokument, das an der zerfetzten Kleidung haftete, am eingetrockneten Blut, und begann die Sieben in Augenschein zu nehmen, die einen Teil von Elias in sich trugen. Zwar musste er auch hier stehen und warten, doch war dies Spähen auf Haustüren und in Fenster, aus der Ferne so klein, dass sie in den Interdigitalraum zwischen Daumen und Zeigefinger passten, ganz hübsch gewesen. Alles lief irgendwie wie in Zeitlupe ab, unter dem Einfluss von Drogen. Und was er dachte, stand als Untertitel unter dem zu lesen, was er sah. Ein Stummfilm in Schwarz-weiß, koloriert nur an Stellen, wo die Fenster erleuchtet waren. Und wenn einer der Jugendlichen sich zeigte, war es, als wäre er es, sein Sohn, der die Empfindungen erstaunlich lebhaft wiederaufleben ließ, als wären nicht Monate vergangen seit jener kalten fernen Stunde, sondern nur Sekunden. Doch immer, wenn Balder den Arm nach ihm ausstrecken wollte – eine irgendwie verlangsamte, handgekurbelte Bewegung – riss der Filmstreifen.
Die Eiche stand träge im Licht der letzten Spätsommertage und warf mild bewegte Schatten auf Elias’ Grab, als Balder von der Mühsal sprach, wenigstens drei der Sieben ausfindig gemacht zu haben. Die Stadt. Die Straße. Das Haus, in dem sie lebten. Der Junge auf dem Foto am Kreuz lächelte. Lächelte breit und ewig.
Der Schmerz ließ ein wenig nach.
Doch schon bald nach deren Inaugenscheinnahme wurden die Tage kürzer und dunkler, und kaum einer von ihnen ließ sich noch blicken. Fast unbemerkt hatte dies stupide, seltsam isolierte Warten – dominiert von Agonie und Trance – wieder Einkehr gehalten.
Zu einem Genius Loci war Balder geworden, einem Geist des Ortes. An die Umgebung gab er nichts weiter ab als seinen starren Blick und seinen Atem. Vor seinen Augen, kantig vom stundenlangen Starren, hielten die Lichter der Straßenlaternen die Schatten ihrer Masten still.
Sein bis in die Haarspitzen Haldol-durchtränkter Körper, gewandet in Stoffe von dunkelfarbiger Beschaffenheit, verschmolz mehr und mehr mit dem schmutzigen Nachtgrau der Betonbauten, das schwer wie Stein auf seiner Seele lastete, dem Grau der Wand, an der er lehnte – von welkem Laub, papierartigem Zeug und Nieselregen umweht.
Er war ein Anonymus. Ein Niemand. Er fiel niemandem auf. Niemand schien ihn zu bemerken, von ihm Notiz zu nehmen, während er da draußen einsam stand – in welcher Stadt auch immer – und die Sekunden, die Minuten, die Stunden von ihm abtropften.
Gegen Mitternacht – er blieb noch, er genoss das Gefühl der Nähe – vergaß das Hirn, wie hungrig der Leib war. Der Geist war auf Schlaf fixiert. Er schwebte, gewichts- und gedankenlos, transparent wie der immer gleiche Regen, durch einen der Sieben.
»Habe ich heute einen der Sieben gesehen, ich weiß es nicht mehr.«
Wahrscheinlich war der Seelenschmerz der Grund, warum Balder den Verstand verlor.
Er widersetzte sich jedweder Zähmung, ließ sich weder bezwingen noch bändigen. Ganz gleich, wo er auch stand und war, vor dem Haus von einem der Sieben, am Grab seines Sohnes, im Atelier, mit verengten Pupillen den Pinsel führend, in schmuddeligen Hotels mit postpubertären Nutten vom Straßenstrich, die er nicht umarmen, nicht küssen, nicht lieben konnte – alles, was er tat, tat er mit ihm. Er wanderte vom Kopf abwärts, als er in sie eindrang, und konzentrierte sich kurz vor dem Höhepunkt ganz nach da unten.
An die Begierde konnte er sich noch erinnern, die postkoitale Schläfrigkeit, die auf den »Liebesakt« folgte, nicht aber an ihre Gesichter. Nicht einmal an das der Letzten.
Sie lag, den Rücken ihm zugewandt, auf der Seite, als er aus ihr herausglitt. Das schwache, von einem Lampenschirm gedämpfte, gelbe Licht einer Stehlampe umspielte ihren festen, knabenhaften Körper und ließ ihr Haar blond erscheinen. Balder betrachtete sie, während er sich ankleidete. Sie war jung, viel zu jung für ihn. Er senkte für die Kürze eines kontemplativen Wimpernschlags die Lider: »Elias, bist du da?«, stieß er leise flüsternd hervor, und sie drehte sich zu ihm hin und löschte die Augentäuschung. Sein Blick hatte zu lange auf schamhaarigen und andershaarigen Regionen geruht, als dass er das Trugbild erneut hätte aufflammen lassen können. Er glitt noch ein letztes Mal über nackte Erhebungen – kleine, weiße Brüste, die nicht bedeckt waren – und fiel durch die beschlagene Scheibe hinaus in die Dunkelheit, bevor er ging – desillusioniert und mit dem Gefühl, etwas Verachtenswertes getan zu haben.
Wie die Nächte waren die Tage ein langer Balanceakt.
Er war es leid, in Fenster, auf Haustüren zu starren und begann ziellos umherzuirren. Sein Gesicht war ganz grau vom Schlafmangel. Die Gehweglaternen übergossen ihn mit schmutzig gelbem Licht. In einem Straßenspiegel, der zertrümmert am Boden lag, war sein Antlitz multiple.
Nur die Krähen in den Bäumen waren Zeugen des gespenstischen Bildes, das Balder abgab: Ein dürres Schattenwesen, das durch die Straßen schlich, immer in Gleisnähe, heimlich, getrieben, von allen unbemerkt.
Er fühlte sich seltsam, wie außerhalb seines Körpers, und halluzinierte immer häufiger. In einer Nacht sah er im Führerhaus einer ausrangierten Lok einen ungeschlachten Mann, der linke Fuß auf dem Totmann-Hebel. Der Kopf, weit nach hinten gelehnt, wurde von der Nackenstütze getragen. Maden der ersten Generation labten sich an seiner Wohlbeleibtheit und stierten während der Verdauungsphasen aus den Höhlen der Augen, der Nase, dem Mundloch des Verwesenden, das weit offen stand, als hätte er etwas gerufen, »weg da!« vielleicht, auf das mit beredten Indizien besäte Gleisgelände: Winzig kleine Fetzen von Verkehrsopfern, die, von niemandem wahrgenommen, vor sich hin moderten.
Er war noch nicht lange tot.
Zuerst gesehen hatte ihn der Junge.
Der war nicht wirklich da.
Und doch hat der Sohn den Vater zum Trost bei der Hand genommen. Die Berührung des Imaginären, so superb in verlorenen Nächten, und so voller Grauen, wenn Balder ihn atemlos vor sich liegen sah.
An einem Tag, der nur ein weiteres Glied einer endlosen Kette von Tagen ohne Sohn war – Balder war sich nur vage bewusst, wo er war, er konnte sich nicht erinnern, diesen Weg eingeschlagen zu haben, es war nicht die erste Erinnerungslücke, die ihm auffiel – riss ihn ein Spektakel aus seiner Apathie, veranstaltet von einer Bande halbwüchsiger Jungen, alle in ihrer Beschäftigung versunken. Fahles Außenlicht eines nahegelegenen Firmenkomplexes illuminierte schwach ihre Gesichter. Hinein in die Szenerie stolzierte eine junge Frau, die die Jugend zurechtwies.
Balder musterte sie.
Sie wusste nicht, warum er dort stand. Es war ihr Weg, der sie an ihm vorbeiführte. Ihm, der so lange schon keiner solchen begegnet, nicht in der Nähe einer solchen gewesen war.
Dann war sie verschwunden.
Und fünf Jungen, die jene Unbekümmertheit an den Tag legten wie einst der Kostbare, staunten, wie problemlos zerbarst, was sie zum Zeitvertreib auf die Schienen legten. Kleine Hindernisse: Münzen, Steine, Glasscherben, diverse Teile aus Chemielaboren. Für die schweren Räder ein Kinderspiel. Balder sah, wie sie lachten, sich anspornten, ihnen mulmig wurde, als sie immer solidere Barrikaden bauten mit dem Geräteschrott, der hier überall herumlag.
Er beschloss, die kommenden Abende hier zu verweilen, in der Hoffnung, die Schöne möge sich wieder zeigen. An ihm vorbeistolzieren mit ihren langen Beinen, als ob es ihn nicht gäbe. Es war etwas an ihr, das er kannte. Wie die einstige Geliebte, von der er es kannte, war sie ein Juwel in seinen Augen. Sie brachte einen Hauch von etwas Gewesenem, längst Vergessenem, lange nicht Verspürtem in sein einsames, verzweifeltes Dasein: diese köstliche Gelöstheit, die ausgeht von einem lasziven, mal mehr, mal weniger gut durchbluteten Steifen; im feuchtwarmen Drin, im kalten Draußen, und wenn draußen, dann doch immer nah genug der schamhaarigen Pforte zum Mutterland.
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