Frank seufzte leise. Je länger sein Vater fort war, desto öfter dachte er an ihn. Immer wieder begegnetem ihm Bilder, Geräusche oder Gerüche, die ihm einen kleinen Augenblick den Eindruck vermittelten, David wäre bei ihm. Wenn die anderen Kinder aus der Schule abgeholt wurden, starrte er oft hoffnungsvoll auf das Eingangstor. In der Erwartung, dort seinen Vater zu sehen. Mit seinem beruhigenden Lächeln würde er auf ihn warten. Ihm einen Kuss auf die Stirn geben und mit ihm nach Hause fahren. Doch Tag für Tag wartete Frank vergeblich.
Gerade jetzt hätte er seinen Vater gebraucht. In diesem Moment. In dem das Gefühl eines lauernden Unheils sich noch immer in ihm rekelte.
Von Müdigkeit übermannt schloss er die Augen. Atmete tief ein. Und riss sie wieder auf. Was war das? Dieses Geräusch? Es klang wie das Knarren des Fußbodens. Das Ächzen der Holzdielen ging ihm durch Mark und Bein. Frank lauschte in die Stille. Machte die unheimliche Aura dieser Nacht ihn überempfindlich? Spielte sein Kopf ihm diese Geräusche nur vor? Annas Gerede von ihrem Albtraum spukte mit Sicherheit noch in seinem Kopf herum. Und projizierte fiktive Monster in seine Gedanken. Doch warum spürte er dann erneut diese drückende Luft? Diese Schwere, die ihn plötzlich wieder umgab? Der Geruch von Schwefel schwoll abermals an, wie der Odem des Todes. Einmal mehr ein Knarren. Nein, es war keine Einbildung. Das Geräusch war da. Er war hellwach und hörte ihn. Den hölzernen Boden, der schrie. Jemand war in seinem Zimmer. Die Schritte auf den stöhnenden Dielen verrieten ihn.
»Mama? Anna?«, fragte Frank leise. Doch der Eindringling hüllte sich weiter in Schweigen.
Ein feuchtes Zischen fauchte durch den Raum. Gefolgt von einem Knurren. Definitiv, jemand war in seinem Zimmer. Jemand oder … Etwas.
Ein Schatten legte sich über das Bett, dessen Dunkelheit die Wand zu seinem Kopfende verhüllte. Die Last der Finsternis ließ die Luft noch schwerer werden. Sie erdrückte Frank regelrecht.
Er drehte sich auf den Rücken. Nicht Anna, nicht Mama, es war das Etwas, was dort vor seinem Bett lauerte. Das Erste, was er sah, war die leuchtend weiße Haut der riesigen Gestalt. Dann bemerkte er die glänzenden, spitzen Zähne, welche aus einer weit geöffneten Falte lugten, die sich vom Kinn bis zur Stirn über den gesamten gesichtslosen Kopf zog. Und Frank erkannte, dass Annas Albtraum nie einer gewesen war.
Kapitel 3
Die Feinde
Drei Wochen waren seit dem Entschwinden von Frank vergangen. Noch immer bekam Anna den Anblick nicht aus dem Kopf, welcher sich ihr bot. Die kleinen Blutspritzer an der blassorangenen Wand hinter dem Bett. Das weiße Laken, das in Fetzen über die Matratze hing und wirkte, wie von einem wilden Tier zerrissen. Ihr hallte das Bellen der Hunde in den Ohren, mit deren Hilfe die Suchmannschaften den Ort durchkämmten. Ebenso das Rattern des Polizeihubschraubers, der mithilfe einer Wärmebildkamera die Wälder und Felder absuchte.
Sie erinnerte sich an Kommissar Köster. Den großen kräftigen Mann, mit dem tiefschwarzem Haar, den hellbraunen Augen und der langen Narbe auf der linken Wange, der ihr mit seiner beruhigenden tiefen Stimme Fragen zum Verbleib ihres Bruders stellte. Insbesondere das Rollen des R fiel ihr auf, wenn er sprach. Hörte er ihr zu, schrieb er Notizen auf einem kleinen Block und rieb sich den fein gestutzten Bart, der rund um seinen Mund verlief.
»Hast du Irgendetwas ungewöhnliches gesehen oder gehört? In der letzten Nacht? Oder davor?«, hatte Kommissar Köster sie gefragt.
»Nein!«, fiel Annas Antwort knapp aus.
Sie blickte zurück auf die Schrift aus Asche, auf das ausgeschaltete Nachtlicht, das Knarren und Knacken des Bodens im Flur. Und an die weiße Gestalt. Doch was sollte sie dem Kommissar erzählen? Würde er ihr abkaufen, dass sie davon überzeugt sei, ihr Bruder wäre von einem Monster verschleppt worden? Einem Monster, welches sie bereits vor 10 Jahren heimsuchte.
Anna war bewusst, es würde sich alles verrückt anhören. Vielmehr würde sie sich selber mit solch skurrilen Aussagen verdächtig machen. Und so behielt sie es für sich.
»Hatten du oder deine Mutter Streit mit deinem Bruder gehabt? Weißt du einen Ort, an dem er sich verstecken könnte?« Kommissar Köster bohrte weiter nach.
Anna zuckte mit den Schultern. »Vielleicht bei seinem besten Freund…«
Der Polizist unterbrach sie. »Tom Zier, das haben wir schon überprüft. Dort hält er sich nicht auf. Fällt dir noch etwas anderes ein?«
Sie schüttelte den Kopf.
Anna erinnerte sich, wie ihr ein kalter Schauer über den Rücken lief. Wie sie aus dem Augenwinkel das grelle Weiß der Schutzanzüge sah. Und das Knistern des beschichteten Stoffs hörte. Wie in einem Flashback schossen ihr die Bilder des weißen Monsters in den Sinn. Ließen sie innerlich zusammenzucken. Immer wieder huschten die Männer und Frauen der Spurensicherung durch das Haus, während Anna mit dem Kommissar im Wohnzimmer sprach.
Sie erinnerte sich auch an ihre Mutter, in ihrem weißen Nachthemd mit rosa Punkten. Wie sie gedankenverloren mit glasigen Augen auf ihrem Bett saß, unfähig ein Wort zu sagen. Und an den älteren glatzköpfigen Mann mit der blauen Weste, auf der »Polizeiseelsorge« geschrieben stand, der bei ihr saß.
Natürlich sinnierte sie auch oft über ihren Bruder. Das Lieblingskind ihrer Mutter. Wie Anna es nervte, dass sie Frank immer so sehr verhätschelte. Und ihr im Gegenzug kaum Beachtung schenkte. Lebten sie in einem Märchen, hätte Frank den Part des verwöhnten Prinzen innegehabt, dem jeder Wunsch von den Augen abgelesen wurde. Anna hingegen wäre die ungewollte Stieftochter, die man in das Verlies eines finsteren Turmes gesperrt hatte.
Anna verabscheute es zu sehen, wie sehr Frank es genoss, im Mittelpunkt zu stehen und die Privilegien zu genießen, die sie nie bekommen hatte. Wie oft er sie mit Schimpfwörtern wie »dumme Nuss« oder »blöde Kuh« belegt hatte.
Anna wunderte sich, dass es diese Unerträglichkeiten waren, die ihr am meisten fehlten. Frank brachte Leben in das Haus. Nerviges Leben. Aber es war immer noch besser als die Totenstille, die jetzt einen Großteil der Zeit im Haus herrschte. Anna vermisste sein dreckiges Lachen, nachdem er ihr mal wieder Zahnpasta unter die Türklinke schmierte. Sie trauerte dem Poltern und Donnern nach, wenn er seinen Fußball quer durch die Zimmer des Hauses kickte. Und sie sehnte sich regelrecht nach seinem Motzen, während er versuchte, seine Hausaufgaben zu erledigen.
Seit dem Verschwinden von Frank war Anna nicht mehr in der Schule gewesen. Man hatte sie freigestellt. Zu groß, glaubten die Verantwortlichen, war die seelische Belastung durch das plötzliche Entschwinden ihres Bruders. Doch welche Belastung es für Anna sein würde, alleine mit ihrer Mutter in dem ansonsten leeren Haus zu sein, ahnte niemand. Gepeinigt von der Sorge um ihren geliebten Sohn, kam sie dem Wahnsinn gefährlich nah. Ihr Gemütszustand wechselte willkürlich von katatonischer Starre über rasende Wut, bis hin zu von Krämpfen geschüttelten Heulanfällen. Anna wünschte sich schon fast die fiese, hinterlistige Furie zurück, die ihr zuvor das Leben schwermachte.
»Besser den Teufel, den du kennst, als den Teufel, den du nicht kennst«, sagte ein altes englisches Sprichwort. Wie viel Wahrheit in diesem Satz steckte, erlebte Anna derzeit am eigenen Leib. In ihren Augen war ihre Mutter schon immer ein Miststück gewesen. Aber sie war berechenbar. Jetzt aber war sie zu einem launenhaften Monstrum mutiert, welches mit unvorhersehbaren Anfällen tyrannischer Raserei über Anna herfiel. Hatte sie die Zeit in der Schule auch gehasst, so kamen ihr jetzt die mobbenden Arschlöcher in ihrer Klasse wie das kleinere Übel vor.
Nun stand sie wieder vor dem Tor des grauen, klobigen Gebäudes, an dessen Stirn in großen schwarzen Buchstaben der Name der Schule stand: »Gymnasium Schwarzenburg.«
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