Wieder im Bett, nahm sie das Smartphone von ihrem Nachttisch und schaltete das Display ein. Das Hintergrundbild zeigte einen rot-weißen Leuchtturm, an dem eine große Welle brach. Anna liebte das Meer. Die Sicht auf die endlose See erfüllte sie mit einem Gefühl von innerem Frieden. Oft stellte sie sich vor, wie sie auf ein Schiff sprang und ohne einen Blick zurück hinaus auf das offene Meer segelte. Gespannt, wohin sie Wind und Wellen tragen würden.
Gedankenverloren sah sie auf den Bildschirm des Telefons. Darauf prangte in schwarze Zahlen die Uhrzeit. 22:45 Uhr. Anna seufzte. Sie war froh, dass ein weiterer anstrengender Tag sein Ende fand. Sie rückte ihr langes weißes Shirt zurecht, das sie zum Schlafen trug. Schlüpfte unter die mit blauer Bettwäsche bezogene Decke. Und schmiegte ihren Kopf an das blaue Kissen, wie an die wohlig weiche Mutterbrust, die sie nie zu spüren bekommen hatte. Sie starrte an die Decke, die vom warmen Schein der Lampe in ein orangenes Licht getaucht wurde. In Gedanken friedlich über das Wasser des offenen Meeres gleitend, setzte sie die Segel in Richtung des fantastischen Landes der Träume.
Anna öffnete die Augen. Und starrte in die Dunkelheit. Hätte sie den Mond nicht hinter den Vorhängen versteckt, würde er sein silbriges Licht durch das Fenster scheinen lassen. Doch so sah sie nur eines. Unendliche Finsternis.
Ein kalter Schauer zog über ihren Rücken. Ihr Innerstes schnürte sich krampfhaft zusammen. Leicht begann sie zu zittern. War sie wach? Oder träumte sie von der Dunkelheit? Nie war es in ihrem Zimmer so düster gewesen. Sie mied die Schwärze der Nacht. Vertrieb sie mit hellem Leuchten.
Anna blickte zur Seite. Auf das Nachtlicht. Ihre Rettung vor der Finsternis. Es war erloschen.
»Warum ist es aus?«, war ihr erster Gedanke.
Es war nicht von ihr ausgeschaltet worden. War es ihre Mutter? Ihr Zimmer war verschlossen. Wie hätte sie das machen sollen?
Sie griff ihr Smartphone. Es war zwei Uhr und 45 Minuten in der Nacht. Anna tastete nach dem Schalter des Nachtlichts, welcher sich am Stromkabel befand. Klick. Nichts geschah. Sie betätigte den Schalter erneut. Erst jetzt bemerkte sie, dass das Kabel ungewöhnlich lose hing. Sie schaltete die Taschenlampe an ihrem Smartphone ein. Dann beugte Anna sich über den Rand des Bettes. Sie spürte, wie die Innenflächen ihrer Hände plötzlich feucht wurden. Ihr Puls begann sich zu beschleunigen, er hämmerte regelrecht. Anna hatte das Gefühl, ihr Herz würde jeden Moment den Brustkorb durchbrechen. Sie schluckte schwer, als sie sich der Düsternis näherte.
Würde etwas unter dem Bett auf sie lauern? Würde es sie packen und unters Bett ziehen? So wie sie es in vielen Vorschauen zu Gruselfilmen gesehen hatte.
Das Licht des Smartphones erhellte das erste Stück unter dem Bett. Anna verfolgte das Kabel des Nachtlichts, welches in der Finsternis verschwand. Der Schein drang weiter in die Dunkelheit vor. An der Wand unter ihrem Bett entdeckte sie die Steckdose, in die das Nachtlicht eingesteckt war. Wie zwei schwarze Augen glotzten sie die Löcher des leeren Anschlusses an. Lose lag das Kabel der Lampe davor.
Hektisch leuchtete Anna den restlichen Teil unter dem Bett ab. Um sich sicher zu sein, dass dort nicht jemand oder Etwas auf sie lauerte. Sie entdeckte ein rosa Haargummi, ein paar rote Socken, einen kleinen blauen Ball und jede Menge aufgetürmten Staub. Jedoch nichts, was ihr gefährlich erschien.
Anna rollte aus dem Bett und ließ sich auf den Boden fallen. Sie schob das leuchtende Smartphone unter das Bett. Ihre Hand griff nach dem Kabel des Nachtlichts.
Ein Knarren. Anna schreckte auf. In Sekundenschnelle schoss ihr Puls in die Höhe. Ihr Atmen wurde schwerer und wandelte sich in ein Keuchen. Sie holte das Smartphone unter dem Bett hervor und durchleuchtete den Raum. Annas Blick wanderte durch das Zimmer. Immer dem Punkt folgend, den der Lichtkegel der Lampe erhellte. Kantige Schatten türmten sich wie gruselige Scherenschnitte an den Wänden auf und wanderten mit dem Licht. Nie hatte sie ihre Zimmereinrichtung so furchteinflößend wahrgenommen.
Mit einem erleichterten Schnauben wandte Anna sich wieder der Steckdose unter dem Bett zu. Doch die Entspannung währte nicht lange. Trotzdem sie im Zimmer nichts entdeckt hatte, hatte sie ein ungutes Gefühl dabei, dem offenen Raum den Rücken zu kehren. Ruhelosigkeit überfiel sie.
Hektisch griff Anna nach dem Kabel. In der Eile rutschte es ihr aus den schweißnassen Fingern. Als sie es endlich fest in der Hand hielt, verband sie es wieder mit der Steckdose. Der warme Schein des Nachtlichts verdrängte die Dunkelheit. Anna atmete tief durch. Sie ließ ein erlösendes Seufzen los.
Mit der Ruhe kam die Erkenntnis, dass etwas anders war. Erst nahm Anna den Geruch wahr. Nur leicht, aber dennoch stechend drang ihr das Aroma von Schwefel und verbranntem Fleisch in die Nase. Gefolgt von einem merkwürdig stumpfen Gefühl in ihren Händen. Fahles Grau hatte sich auf ihren Fingern und der Handinnenfläche ausgebreitet. Sie rieb das feine Pulver zwischen ihren Fingerspitzen.
»Asche?«, stieß Anna verwundert aus.
Sie nahm das Smartphone und leuchtete erneut unter das Bett. Dieses Mal sah sie genauer hin. Sofort fielen ihr die Aschehaufen ins Auge, welche sie zuvor fälschlicherweise für Staub gehalten hatte. Sie waren in Linien aufgehäuft. Ein Muster. Doch Anna konnte es vom Boden aus nicht erkennen.
»Fuck!«, entfuhr es ihr.
Sie kroch unter dem Bett hervor. Die staubigen Finger klopfte sie an ihrem Nachthemd ab. Graue Abdrücke ihrer Hände blieben darauf zurück.
Anna griff die hinteren Pfosten ihres Bettes. Keuchend begann sie mit aller Kraft zu schieben. Elendig heulte der hölzerne Boden, während die Füße des Gestells über ihn kratzten.
Einen Augenblick erstarrte Anna. Trotz der Anstrengung ruhte ihr Atem für einen kurzen Moment. Totenstille herrschte, während Sie betrachtete, was sie freigelegt hatte.
Große, aus Asche geschriebene Lettern gafften ihr entgegen.
ET ORP SON.
Mit wirrem Blick betrachtete Anna die Worte, angestrengt einen Sinn in den Buchstaben zu finden. In Gedanken ordnete sie die Zeichen neu. Wie ein Scrabble-Spieler tauschte sie hin und her. Doch die Lettern ließen keine Bedeutung erkennen.
Ein helles Licht blitzte auf, als sie mit ihrem Smartphone ein Foto von der Ascheschrift machte.
Ihr Herzschlag überschlug sich schlagartig beim Geräusch des erneut krachenden Fußbodens. In Windeseile fuhr ihr Körper herum. Während sie einen Blick in den leeren Raum warf, stöhnte der Boden erneut.
»Der Flur« , kam ihr in den Sinn. Von dort ertönte es, das Knarren, welches ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ. Schon oft war Anna aufgrund des Geräusches in der Nacht hochgeschreckt. Zu ihrer Beruhigung waren die Erklärungen dafür meist schnell gefunden. Der nächtliche Toilettengang ihrer Mutter oder das Plündern des Kühlschrankes durch Frank für einen Mitternachtssnack versetzten sie immer wieder in Todesangst. Die rotgetigerte Katze, welche sich mit Vorliebe nachts in ihr Haus verirrte, tat das übrige, um Anna in Panik zu versetzen.
In Gedanken führte sie es sich vor Augen. Wie sie Frank oder ihre Mutter auf dem Flur antraf. Und wusste, dass alles in Ordnung war. Dieses Mal würde es wieder so sein. Dessen war sich Anna sicher. Fast sicher. Wäre da nicht ein Detail, welches nicht in das heile Bild passte. Die Buchstaben aus Asche.
Wieder krächzte der Boden.
Anna nahm ihren Zimmerschlüssel vom Nachttisch. Bedachten Schrittes bewegte sie sich zur Tür des Raumes. Sie erstarrte bei jedem metallischen Klicken, welches das Schloss von sich gab.
Der orangene Schein des Nachtlichts ergoss sich in den Flur und durchbrach die Schwärze der Nacht. Anna trat mit einem Fuß aus ihrem Zimmer hervor. Sie blickte geradeaus. Auf die Treppe, welche in das Erdgeschoss führte. Mit jeder weiteren Stufe hinab verlor das Nachtlicht seine Kraft, bis das Ende der Treppe wieder völlig in der Finsternis verschwand.
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