Radius Lehr Ha - da sieht man, was eine Dame ist. Aber nicht nur das.
Amalie Hoch Ach, Radius, was ist denn noch?
Radius Lehr Der Wieschensriether hat angerufen.
Amalie Hoch Und ich dachte, du hast gekündigt.
Radius Lehr Alles nur ein Missverständnis.
Amalie Hoch Das hätte man sich ja aber auch gleich denken können.
Radius Lehr Alles aus der Welt geschafft.
Amalie Hoch Prima, wie mich das freut für dich.
Radius Lehr Ja, nur für heute habe ich frei bekommen. Weil ich immer das Gewehr aus dem Feuer reiße, aber ab morgen heißt es wieder Kohlenpinsel bei Fuß.
Amalie Hoch Hört sich wirklich gut an, alle Achtung.
RLG Radius Lehr zückte noch eine Münze für das Mineralwasser hervor.
Radius Lehr Deswegen muss ich gleich auch wieder gehen, das Renovieren einer Bank kann nur ausgeruht erledigt werden.
Anne Hoch Warte mal, ich glaub, ich hab noch was für dich.
Radius Lehr Ach, Anne, was denn – und hättest du damit nicht etwas früher rausrücken können?
Anne Hoch Aber Radius, ich möchte dir doch nur was schenken.
Radius Lehr Wie – was schenken?
Anne Hoch Ja, aber es ist jetzt im Grammatikbuch.
Radius Lehr Du meinst doch nicht etwa in dem zerfledderten Ding.“
Anne Hoch Ein Gedicht.
Amalie Hoch Selbst geschrieben.
Anne Hoch Vielleicht gefällt es dir ja sogar.
Radius Lehr Ich weiß nicht einmal, was ich mit einem Gedicht anfangen soll. Ehrlich gesagt.
Anne Hoch Warum liest du es nicht einfach? Bevor du was sagst?
Amalie Hoch Genau, wo es doch von ihr ist.
Radius Lehr Na gut, von mir aus, wenn dies denn nur alles ist.
Anne Hoch Na ja.
Radius Lehr Um der lieben Seele Frieden, meinetwegen.
Anne Hoch Etwas Besonderes ist es natürlich nicht.
Amalie Hoch Ach, Kindchen, auch in jungen Jahren soll man sein Licht nicht zu sehr unter den Scheffel stellen.
Anne Hoch Nee, Mama, besonders gut geschrieben ist es wirklich nicht.
Amalie Hoch Also, ich finde schon, und bedenke, sogar der Herr hat sich für dein Gedicht interessiert. Vergiss das bitte nicht.
Anne Hoch Aber ich habe es ihm doch nicht gegeben, weil es einfach nicht gut genug ist. Und für so einen Herrn gleich dreimal nicht.
Radius Lehr Wie - ich hör wohl nicht richtig.
Amalie Hoch Radius, wolltest du eigentlich nicht gehen?
Radius Lehr Na, na, vorher will ich aber schon noch wissen, warum du mir ein Gedicht überlässt. Das für andere zu schlecht.
Amalie Hoch Aber Radius, das mit dem Herrn ist doch was ganz Anderes gewesen.
Radius Lehr Aber für mich soll es gerade gut genug sein?
Anne Hoch Du brauchst es ja auch nicht lesen.
Amalie Hoch Bei ihm waren‘ s ja auch mehr berufliche Interessen.
Radius Lehr Berufliche Dingsbums? An einem zerfledderten Gedicht?
Amalie Hoch Der verdient doch bloß sein Geld damit. Mit Gedichten und so.
Anne Hoch Na ja, vielleicht ist es sogar besser. Wenn du‘ s auch nicht haben willst.
Radius Lehr Jetzt beruhige dich doch mal, Anne, ich hab‘ s doch zumindest angenommen.
Amalie Hoch Und was für Tischmanieren der hatte!
Radius Lehr Wer?
Anne Hoch Ach Mann, Radius, der Herr natürlich. Wer denn sonst?
Radius Lehr Herr?
Amalie Hoch Ja, der von gestern.
Radius Lehr Und ich dachte, wir haben‘ s heut mit den Damen.
Anne Hoch Mama, warum zeigst du ihm nicht einfach mal die Karte?
RLG Tatsächlich zückte Amalie Hoch eine blütenweiße Visitenkarte hervor, mit geschnörkelter Goldschrift darauf.
Radius Lehr Mei – nard – Lem – bel – Ver – lag – und – Druck. Nee, sagt mir nichts, beim besten Willen nicht.
Amalie Hoch Und dabei hast du sogar gesprochen mit ihm. Unschönes leider.
Radius Lehr Keine Ahnung, nicht einen Schimmer - totaler Filmriss irgendwie. Aber wem wundert‘ s heut.
Anne Hoch Er war ja auch zum aller ersten Mal bei uns in der Kneipe - nicht wahr, Mama?
Amalie Hoch Ja, das stimmt allerdings, das ist richtig.
Radius Lehr Soll das etwa heißen, ich habe gestern auch noch einen Fremden angemacht?
Amalie Hoch Ach, und wenn schon, selbst das ist eigentlich Schnee von gestern.
Anne Hoch Ja - und wirklich niemand von uns hat ihn zuvor gesehen.
Radius Lehr Na ja, wenn das so ist. Aufhalten kann ich mich damit ohnehin nicht mehr. Auf der anderen Seite, für mich wird es allerhöchste Eisenbahn. Ach, und Anne.
Anne Hoch Was ist denn noch?
Radius Lehr Danke für das unerwartete Gedicht.
Amalie Hoch Hört, hört, freust dich ja doch.
Anne Hoch Nichts zu danken. Ist ja eigentlich auch nichts Besonderes.
Neuer Kontostand: ein ßilberling, ein Ende
Das Lindenbankhaus – Ihre Andere Bank
Auszug 35 159 23 5, Blatt 21
Aktueller Kontostand: ein ßilberling, ein Ende
ßilberling Hm!
RLG Ja, mein ßilberling.
ßilberling Das Mädchen Anne.
RLG Sogar ein Gedicht.
ßilberling Tja, ja.
RLG Also, wenn du willst, kann ich dir noch ein ganz anderes Beispiel präsentieren.
ßilberling Meinetwegen, von mir aus. Wenn‘ s denn unbedingt sein muss.
RLG Es war am letzten Heiligen Abend, ein Tag, an dem selbst die Hochkneipe geschlossen bleibt. Oberhalb die Wohnstube der Wirtsleute, und wo Amalie und Frau Fiel bereits das Weihnachtsmenü zubereiteten: Schweinebraten mit Kartoffelstampf und Rotkohl, zum Dessert sollte Wackerpudding gereicht werden, wahlweise grün oder rot. Derweil schmückte Dimitri den Christbaum, und zwar nur Dimitri, nachdem Radius Lehr bereits nach zehn Minuten eine Zwischenbilanz von drei herunter gepatschten Kugeln vorzuweisen hatte, frei nach dem Motto „bringen Scherben wirklich immer Glück?“.
Stattdessen begab er sich nun mit Anne Hoch auf dem Kirchhof zum elterlichen Grab, was so viel bedeutete, dass der Heilige Abend der einzige Tag des Jahres war, an welchem er sich drum kümmerte. Hatte er sich vor dem Gang mit einer Gießkanne bewaffnet, kam Anne auf dem Kirchhof aus dem Kopfschütteln nicht mehr heraus. Nein, nie und nimmer, mit einer blauen Plastikhacke kratzte er ein paar tiefgefrorene Unkräuter vom Beet runter, um dann zwei rote Kerzen, die er eigens aus einem Supermarkt besorgt hatte, aufzusetzen. Spätestens hier war Anne Hochs Kragen am Platzen, um es mal vorsichtig zu formulieren, höchstwahrscheinlich, ja, ja, davon war auszugehen, ja, ja, das war anzunehmen.
Anne Hoch Mann, Radius, so springt man doch nicht mit seinen Eltern um!
RLG Weiterhin erfuhr sie von Radius Lehr keine Gegenwehr, nicht einen Hauch. Nein, er wurde von Anne Hoch bis in Abrahams Laden gezerrt, der an einem solchen Tag immer noch offen hatte. Unter einem seiner Trödel – und Kramtische zog er einen riesigen, hoffnungslos überfüllten Karton hervor. Mit Kerzen aus aller Herren Ländern, ja, die Auswahl unendlich, in der Tat, in der Tat, alle möglichen und unmöglichen Farben und Formen standen zur Verfügung, lange und kurze, dicke und dünne, glatte und gezwirbelte, und fast jedes Exemplar seiner schier unüberschaubaren Sammlung schien ein Unikat zu sein. Anne Hoch drückte Radius Lehr zwei besonders schöne in die Hände. Weiße Kerzen, zurück zum Grab drängte sie ihm auch noch dazu, das „Vater unser“ aufzusagen. Oder wäre in diesem Falle, was die Bezeichnung anging, ihr nachzuplappern treffender gewesen?
Als sie zurück, war inzwischen alles feierlich angerichtet worden, und der Abend verlief ohne weitere Vorkommnisse.
ßilberling Weihnachten feiern - wie schön das sein kann.
RLG Du sagst es, und nach dem Mahl bildeten sich zwei Gruppen.
ßilberling Dein Radius und die Anne.
RLG Ach, natürlich, selbstverständlich, was denn sonst, die beiden hockten unter dem Christbaum und beschäftigten sich mit ihren Geschenken wie Märchenbücher, Malbücher, und so weiter, und so fort.
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