Ach, du meine Güte, wie lange er den Otto Wieschensriether nun schon kannte! Einschließlich der Macken, ja, und hatte der trotzdem nicht immer zu ihm gehalten? Unterm Strich, im Guten wie im Schlechten, und umso mehr war es dem immer mehr unter die Bettdecke Schwitzenden mehr wie ein Rätsel, wie es zum Disput des Vortages überhaupt kommen konnte. Einer, nachdem hätte alles aus sein können, endgültig wohlgemerkt, oder war es doch nur ein Ausrutscher? Unterm Strich, ein schlimmer zugegebenermaßen, am Ende, oder dann doch vielleicht ein wenig mehr? Etwas ganz Anderes? Oder was weiß der Teufel, ja, es tat ihm jetzt alles so leid, aber richtig, denn war es nicht so, dass der unausstehliche Koloss weiterhin zu ihm hielt? Trotz allem, noch mehr wie sonst sogar? Was ihm dies allein ersparte, die Suche nach einem neuen Job zum Beispiel, etwas, was Radius Lehr Zeit seines Lebens nie machen brauchte. Auch das Dank dem Wieschensriether, oder gar ein Gang zum Arbeitsamt, für ein auf einen eindeutigen Trichter zu geraten fehlte ihm freilich hundertprozentiges Denkvermögen. War es auf der anderen Seite aber nicht gerade der Meister, der wusste, was er an ihn hatte? Ja, war dem nicht so, ganz offenkundig, beziehungsweise hat, nach gut zwei Jahrzehnten immerhin, Radius Lehr wurde es schummrig zumute, durchaus, durchaus, und sogar so etwas wie ein Hauch von Wehmut stieg unter der Bettdecke empor, durchaus, die schmerzhaften Gedanken an die Kaffeekasse nicht zu vergessen. Ja, ja, genau die mit dem bekritzelten Heftpflaster; ganz zu schweigen vom Waschbecken, die Verkalkung, das Zersprungene, das Scheppern und Kleppern aus von Klinkhovens Lackkammer.
Ach, du meine Güte, wer da je für möglich gehalten hätte? Eine Träne im Knopfloch, wenn er an einen wie den von Klinkhoven dachte? Nein, dies alles hätte doch nicht wahr sein können, nach den vielen, vielen Jahren, doch wie dem auch sei, was brachte alles Resümieren ein? Unterm Strich, beziehungsweise am Ende, wo doch vielmehr anderes vonnöten wäre. Oder etwa nicht, ein paar Worte des Dankes zum Beispiel, für und an Wieschensriether, für das zu ihm Halten, und dass trotz der fürchterlichen Auseinandersetzungen von gestern, die ihm mehr wie ein Dorn in den verklebten Augenlidern war. Mehr wie das, eine Entschuldigung, stellte Radius Lehr fest, wäre angebracht und das Mindeste für das an den Kopf Geworfene. Sich persönlich schrieb er sich ein Telefonat ins ganz persönliche Heft, im Laufe des Tages natürlich, und ab morgen werde wieder zur Arbeit gegangen, brav, treu und fleißig, so wie immer, wie seit ungefähr zwei Jahrzehnten, alles wieder im Lot, und das Ganze auch noch zu deutlich verbesserten Bezügen. Ende gut, alles gut, Donnerwetter, allein die Trockenheit im Halse, sie währte und währte.
Mit einem zaghaften Rundblick durchs Zimmer stellte Radius Lehr nicht nur fest, dass auf der Kommode, wo eigentlich sonst immer eine Schüssel mit Wasser, nun die mit dampfendem Karamellpudding war. Und wenn es ihm bei allem Schwergemüt nicht alles restlos täuschte, dann war ihm so, als ob es sich bei der Kristallschüssel um die eine und dieselbe handelte, beileibe, nein, gewissen Eindrücken konnte selbst er sich nicht entziehen.
Radius Lehr hatte noch immer den Maleroverall vom Vortag an. Nein, nie und nimmer, und war es schließlich das pelzige Gefühl mitten auf der Zunge, der kalt - warme Schweiß unter der Decke, was ihn tatsächlich zum Aufstehen bewegte? Tatsächlich, tatsächlich, wankend natürlich, kein Wunder, was denn sonst auch, butterweiche Knie, Tribut zu zollen war, durchaus, durchaus, und ob der synthetisches Karamellduft, welcher sich im Zimmer ausgebreitet, überhaupt zu wenigstens ein klein wenig Besserung seines Allgemeinzustandes beitrug? Na ja, wohl eher weniger - draußen auf dem Korridor patschte er die sich gegenüber befindliche- eigentlich zu verriegelnde- geweißelte Holztür sodann wieder zu. Beziehungsweise sogleich.
Radius Lehr Entschuldigung, hab nicht mehr daran gedacht.
Stimme hinter der Holztür Macht nichts, nicht so schlimm.“
Radius Lehr I – i - ich glaub, du hast vergessen, den Riegel zu verriegeln.
Stimme hinter der Holztür Ach so – na, ja, was soll‘ s, soll ja schon mal vorgekommen sein.
Radius Lehr Okay, ich warte im Zimmer auf dich.
Stimme hinter der Holztür Nein, du kannst ruhig bleiben; kommst sogar wie gerufen.
Radius Lehr Aber ich geh doch nicht weg. Nur ins Zimmer.
Stimme hinter der Holztür Nein, bleibe, vielleicht kannst du mir sogar helfen.
Radius Lehr Helfen? Nicht, dass ich wüsste.
Stimme hinter der Holztür Das Papier ist nämlich alle.
Radius Lehr Ach so, wenn‘ s weiter nichts ist. Im Schränkchen über dir, ein Zwölferpack. Müsste eigentlich noch fast ganz voll sein.
Stimme hinter der Holztür Aber da komm ich doch nicht ran.
Radius Lehr Und ich dachte immer, dass du schon groß genug bist.
Stimme hinter der Holztür Aber wie soll ich das denn bloß machen?
Radius Lehr Na, wie denn - wie wäre es mit sich erheben?
Stimme hinter der Holztür Kannst du mir mal verraten, wie man das machen soll? Wenn man mittendrin ist?
Radius Lehr Ach so ist das. Aber ich glaube, ich hab´s, ich habe eine Idee. Eine sehr gute sogar.
Stimme hinter der Holztür Prima, ich habe doch gewusst, dass du mir hilfst.
Radius Lehr Ist ja auch ganz einfach, im Zimmer liegen ja noch ein paar alte Zeitungen. Wie du sicherlich weißt.
Stimme hinter der Holztür Um Himmelswillen, was soll ich mit Zeitungen?
Radius Lehr Ich wirf sie dir zu.
Stimme hinter der Holztür Die sind mir viel zu rau.
Radius Lehr Durch den Türspalt, ganz einfach.
Stimme hinter der Holztür Und viel zu hart.
Radius Lehr Tja, wenn du‘ s nicht anders willst. Dann wirst du dich doch bequemen müssen. Bis zum Schränkchen hoch.
Stimme hinter der Holztür Um Himmelswillen!
Radius Lehr Nein, und ganz bestimmt nicht das, was du wahrscheinlich von mir erwartest, so etwas mach ich ganz bestimmt nicht.
Stimme hinter der Holztür Ach, Radius, stell dich doch nicht immer so an.
Radius Lehr Und das auch noch bei kleinen Mädchen – ausgerechnet.
Stimme hinter der Holztür Du wirst mir schon nix weggucken.
Radius Lehr Nein, auf keinen Fall.
Stimme hinter der Holztür Wird schon nicht so schlimm werden.
Radius Lehr Na gut, von mir aus - aber nur auf deine Verantwortung.
RLG Vorsichtig schob Radius Lehr die geweißelte Tür auf, um wie ein auf einem Trampelpfad schleichender Krieger einzutreten; mit einer Hand flach vor den Augen klapperte er zunächst gegen einen grünen Plastikeimer in eine der Ecken, zwischen zwei Fingern geblinzelt tastete er sich bis zum Schränkchen vor. Über Anne, mit der anderen, freien Hand öffnete er es, und zwängte aus einem in der Tat bereits aufgerissenen Zwölferpack eine Rolle heraus. Nun galt es, die leere Papierhülse aus der Halterung an ihrer Seite zu entfernen, was alles andere wie eigentlich möglich war, denn war eine Hand nicht wegen der Augen blockiert, die andere mit der Rolle?
Anne Hoch Oh Radius, warum tust du sie nicht einfach runter?
RLG Nein, das wollte er nicht, nein, das konnte er nicht, das hätte er doch nicht einfach machen können. Der unter dem Overall hoffnungslos Schwitzende legte nervös und aus purer Verlegenheit die Rolle auf ihre entblößten Beine, auch das noch, ausgerechnet, um sie sofort wieder an sich zu nehmen.
Radius Lehr Verzeih, ich glaub, ich bin heut einfach nicht in Form.
Anne Hoch Warum lässt du sie einfach nicht liegen? Ist doch auch ganz schön kuschelig! Flauschig irgendwie, rosa und zart!
RLG Nervös wurde die leere Hülse aus der Halterung befreit, bei der Wegnahme der neuen Rolle wurden zum allen auch noch ihre leicht unterkühlten Knie mit den Fingerspitzen touchiert.
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