Radius Lehr Entschuldigung.
RLG Anne kicherte, während er die frische Rolle einklemmte, anschließend über den grünen Eimer gestolpert, im Rückwärtsgang, hinter sich die geweißelte Holztür zugeknallt. Schweren Atems bekam er es mit Angst zu tun, denn hatte er die Anne jetzt nicht eingesperrt? In einen der nächsten ihm kaum zur Verfügung stehenden Momente konnte allerdings Entwarnung gegeben werden: geht ja gar nicht, der Bad – und Toilettenraum lässt sich ja nur von innen verschließen, frei nach dem Motto „Selbstvergewisserung hin, Selbstvergewisserung her“:
Zurück im Zimmer starrte der hoffnungslos Ausgetrocknete auf die Puddingschüssel, sein Zustand war und blieb ein erbärmlicher. Um es mal vorsichtig zu formulieren, und war da schließlich nicht noch einiges anderes, was ihn plagte? Wem er zum Beispiel am Tag zuvor alles auf den sogenannten berühmten Schlips getreten hatte? Nicht nur den Wieschensriether, nicht nur den von Klinkhoven, von einem wie dem Alonso ganz zu schweigen? Leonid und Erich natürlich nicht zu vergessen, lieb gewonnene Freunde, Amalie und Dimitri, aber wie gesagt, noch was Anderes dazu, was ihm belastete? Durchaus, mehr wie ihm lieb war, durchaus, durchaus? Noch jemand, die in besonderem Maße von einen jeglichen derben, unsäglichen Rundumschlägen in Mitleidenschaft gezogen wurde? Jemand, die ihm nahestand? Mehr wie das? Nach all den vielen, schönen Jahren? Unter die Gürtellinie? Worte? Beschimpfungen? Rohheiten? Die wehtaten?
Mit dem Starren auf die Schüssel fasste Radius Lehr einen Entschluss, so jämmerlich er sich auch fühlte: ein Wort der Entschuldigung, oder wäre dies nicht das Mindeste gewesen? Was zu erwarten gewesen wäre? Sobald sie eingetreten? Doch, doch, durchaus, Radius Lehr rang sich durch, jawohl, er schien zu allem bereit.
Neuer Kontostand: ein ßilberling, ein Ende
Blatt 19: Anne zwischen Tür und Angel
Das Lindenbankhaus – Ihre Andere Bank
Auszug 35 159 23 5, Blatt 19
Aktueller Kontostand: ein ßilberling, ein Ende
RLG Anne zwischen Tür und Angel! Synthetisch hin, synthetisch her - und eh Radius Lehr auch nur einen Zentimeter weiterdenken konnte, stand Anne Hoch in seinem Zimmer. So wie sie leibte, wie sie lebte, in ihrer knallschwarzen Montur wohlgemerkt.
Radius Lehr Gut, dass du endlich da bist, Anne, ich hab dir nämlich was zu sagen.
Anne Hoch Hm - Pudding?
Radius Lehr Was ganz Wichtiges!
Anne Hoch Bestimmt von Oma Federica! Nicht wahr?
Radius Lehr Sehr wichtig sogar.
Anne Hoch Ganz bestimmt Pudding - hm!
Radius Lehr Was du nur mit dem Pudding hast.
Anne Hoch Aber hallo - wie wäre es zum Beispiel essen?
Radius Lehr Essen? Wie? Natürlich.
Anne Hoch Oder hast du keinen Hunger?
Radius Lehr Wie? Hunger?
Anne Hoch Ach, Radius, auf den Pudding.
Radius Lehr Gott bewahre, das klebrige Zeug hat mir gerade noch gefehlt.
Anne Hoch Mann!
Radius Lehr Wenn das alles ist, dann können wir ja endlich zur Sache kommen.
Anne Hoch Hä!
Radius Lehr Ja, das was ich dir zu sagen habe.
Anne Hoch Meinetwegen, wenn es unbedingt sein muss, aber kannst du mir nicht zuerst was anbieten?
Radius Lehr Anbieten?“
Anne Hoch Ach Radius, och Mann, ich hab Hunger.
Radius Lehr Das tut mir leid, aber ich fürchte, ich habe nichts für dich.
Anne Hoch Den Karamellpudding.
Radius Lehr Den Kara, den, den – ach so, natürlich. Von mir aus kannst du die ganze Schüssel essen.
Anne Hoch Leer essen, Radius, leer essen heißt es.“
Radius Lehr Hauptsache ich werde das Zeug los.
Anne Hoch Ich glaube, es wird höchste Zeit, dass wir mal wieder üben.
RLG Unmittelbar nachdem Radius für Anne die Schüssel auf den Tisch gesetzt hatte, verließ er das Zimmerchen, im Spiegel seines Gegenüberbades leuchteten winzige Glitzersterne. Mit dem Mund unter dem Leitungshahn ließ er eiskaltes Wasser in den verdorrten Schlund laufen, was aber auch nur eine geringfügige Linderung einbrachte. Aber immerhin, es war zumindest endlich mal eine, zurück im Zimmer war Anne Hoch bereits am Auslecken der Schüssel, während auf dem Tisch ein zerfleddertes Grammatikbuch lag.
Anne Hoch Schau es dir ruhig an; der Direktor Langhorn hat unsere Schulbibliothek ausgemistet. Dabei hat er mir dieses Buch geschenkt.
RLG Anne Hoch trug die leere Schüssel auf die Kommode zurück, und schnappte sich eine von Frau Fiels stets herumliegenden Fernsehzeitschriften.
Anne Hoch Na, wie gefällt es dir?
Radius Lehr Ach, Anne, nun gib mir doch wenigstens etwas Zeit.
Anne Hoch Dafür habe ich gleich was für dich: eine Versteigerung.
Radius Lehr Substantivierte Verben?
Anne Hoch Mit sechs Buchstaben.
Radius Lehr Eine Auktion, Anne, eine Aktion.
Anne Hoch Bist du dir sicher?
Radius Lehr Schreib‘ s hin, es wird schon stimmen; man hängt dem Verb ein Artikel an, und schon ist‘ s ein Substantiv – aha!
Anne Hoch Wirklich ganz leicht, findest du nicht, ein abfallendes Gelände mit vier Buchstaben, das „A“ habe ich schon.
RLG Radius zeichnete auf einem im zerfledderten Grammatikbuch entdecktes kariertes Blatt eine zweispaltige Tabelle: eine für die Verben, eine für die daraus gebildeten Substantive – na klar, für was denn sonst auch.
Radius Lehr Ach, Anne, merkst du eigentlich nicht, dass ich beschäftigt bin?
Anne Hoch Ich glaube, du weißt es nicht?
Radius Lehr Ein Hang, du Nervensäge.
Anne Hoch Sehr gut, und jetzt ein Schienenfahrzeug.
Radius Lehr Lachen – das Lachen.
Anne Hoch Ganz leicht, habe ich‘ s nicht gesagt, ach ja, an dritter Stelle ein „G“.
Radius Lehr Ein Zug glaub ich, man könnte auch „weinen“ nehmen: weinen – das Weinen.
Anne Hoch Gar nicht so schlecht, aber weißt du auch, was ein Tiergarten ist?
Radius Lehr Ach, Anne, wie oft das vorgekommen ist in unseren Rätseln, manchmal ist es wirklich zum Kichern mit dir. Hm, kichern – das Kichern.
Anne Hoch Na gut, wenn du nicht mehr willst, ich schreib dann solang mal den Zoo hin. Das Gegenteil von Tadel?
Radius Lehr Lob – das Lob! Etwas, was du heut offenbar nicht verdient hast.
Anne Hoch Drei Buchstaben, stimmt.
Radius Lehr Loben – das Lob.
Anne Hoch Jetzt fehlt noch eine Abkürzung. Für „Bank of England.
Radius Lehr Das man dir alle aber auch wirklich alles aus der Nase kitzeln muss.
Anne Hoch B – O - E – ist doch ganz einfach. Mann, Radius!
Radius Lehr Kitzeln – das Kitzeln.
RLG Die Zeitschrift weggelegt, begab Anne Hoch sich an Radius Lehrs Seite.
Anne Hoch Das machst du wirklich sehr gut, für dein letztes Verb gibt es aber vielleicht noch ein anderes Substantiv.
Radius Lehr Du meinst zwei Substantive? Aus nur einem Verb?
Anne Hoch Aber ja doch
Radius Lehr Nein das geht nicht, im Buch steht nichts von zwei Substantiven.
RLG Anne Hoch entriss ihm den Stift und kritzelte was in Radius Lehrs karierte Tabelle. Er aber traute seinen Augen nicht, Anne hielt den Stift vor Radius Nase.
Anne Hoch Ein Verb, zwei Substantive. Wie ich es dir gesagt habe.
RLG Die Anne – was um aller Welt war nur in sie gefahren? Nicht, dass es am Ende eine Seite an ihr war, die er bisher noch nicht kannte.
Radius Lehr Nein, Anne, das geht nicht.
Anne Hoch Du siehst doch, dass es geht. Oder habe ich es etwa umsonst hingeschrieben?
Radius Lehr So etwas schreibt man aber nicht hin.
Anne Hoch Aber wieso denn nicht?
Radius Lehr Weil davon nichts steht, also gibt es das auch nicht – basta!
Anne Hoch Und wie es das gibt. Und es ist etwas ganz Natürliches.
Radius Lehr Nein, ich weigere mich, so etwas anzunehmen.
Anne Hoch Ich weiß nicht, warum du dich wieder mal so anstellst. Außerdem werde ich ja noch wohl wissen, wovon ich spreche, schließlich habe ich auch einen. Oder hast du ihn vorhin im Bad nicht gesehen?
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