Seit der unrühmlichen Begegnung unter der romantischen Schullinde hatte es mit Chantal nicht einen einzigen Wortwechsel mehr gegeben. Nein, nicht eine Silbe, und als er in die dritte Klasse aufgestiegen war, wechselte sie in die Realschule. Mehr oder minder, nach Beendigung der Schulzeit zog sie dann für drei Jahre in eine benachbarte Kreisstadt, wo sie an einer höheren Handelsschule zur Bankkauffrau ausgebildet wurde. Hinterher kehrte sie zurück, und ist seitdem Kassiererin am Schalter unserer Bankfiliale. Und an diesem Ort war es dann auch gewesen, wo Chantal Island und Radius Lehr wieder aufeinandertrafen. Beziehungsweise Stelle, nach all den Jahren, und war es schließlich Chantal, die vom ersten Tag ihrer Wiederbegegnung hoch begeistert war, hielt sich Radius Freude in Grenzen. In mehr wie arge wohlgemerkt, und bis zum heutigen Tage fand zu jedem Monatswechsel, wenn er sich bis vor ihren Schalter begeben hatte, der immerzu gleiche Dialog statt.
Radius Lehr Tausend.
Chantal Island So wie immer – nicht wahr?
RLG Stumm wurde unter der Malermütze genickt, Noten und Blätter verschiedener Größen und Farben wurden von Chantal aus dem Scheinfächersortiment zusammen geblättert, fein und säuberlich, und sie zählte ihm behutsam bevor, die einzelnen Noten des Bündels auffällig nah am offenherzigen Dekolleté, was einem wie Radius Lehr nicht mehr wie eher ins Gleichgültige neigende Blicke entlockte. Nein, sein einziges Interesse galt den Scheinen, nicht mehr, nicht minder, und Chantal hätte höchstwahrscheinlich machen können, was sie wollte. Was für ein Jammer, denn war aus dem niedlichen Lockenmädchen nicht längst mehr wie eine äußerst attraktive Frau geworden? Und wurden nicht zumeist hochelegante Kostümkombinationen getragen? Zum Beispiel? Die Röcke jedoch hätten aber so kurz gewesen sein können wie sie wollten, die Lippenstifte noch kräftiger und farbiger, von dem lockigen, schulterlangen Haaren ganz zu schweigen, es nutzte alles nichts. Am Ende, von Jahr zu Jahr wurde Radius Lehrs Ignoranz mehr und mehr unerträglich, um es mal vorsichtig zu umschreiben, und mutmaßlich hätte sich Chantal Island auch nackig hinter ihrem Schalter begeben können, ohne dass er auch nur einen Zentimeter von seiner dem femininen Geschlecht entsagenden Grundhaltung abgerückt wäre. Ach, und wenn es nur ein einziger gewesen wäre, aber nein, nichts, rein gar nichts, ach, es war und blieb ein Jammer, denn war sie nicht von Herzen gut, von Jahr zu Jahr, hoch beliebt, in unserem ganzen Viertel wohlgemerkt, nach meinem ganz persönlichen Dafürhalten eine weitere Ironie. Auch dass sie noch immer nicht aufgegeben hatte, bis zum heutigen Tag, dabeihatte und hat sie Verehrer noch und noch. Wie Sand am Meer, kein Wunder, Chantals Attraktivität, längst hätte auch sie schon in den Hafen der Ehe eingefahren sein können. Mit allem Drum und Dran.
Selbstverständlich, ganz klar, unter dem Strich war Radius Lehr indes zufrieden. Mit sich, mit dem Leben, mit der Welt, sein Einkommen nicht zu vergessen. Vom Auskommen ganz zu schweigen, ab und zu ein Bierchen in unserer Eckkneipe, das einzige Relikt, welches an die wilden Schrebergartenjahre erinnerte. Im weitesten Sinne, häufig wurde die Zeit an der Theke auch mit Frau Fiel verbracht. Oder am Stammtisch, aber auch in seinem Zimmerchen oder im Erdgeschoss der Pension, wo sie ihre Wohnung hielt. Gemeinsam wurden die Abende mit Spielen bewältigt, wobei mit der Zeit alles Mögliche auf den Tisch kam. Beziehungsweise unmögliche, so dass Halma genauso auf ihrer Agenda stand wie Mensch Ärgere Dich Nicht, Malefiz, Schach, Dame, Mühle, Backgammon, Memory, Kniffel, Reversi, Vier Gewinnt, Schwarzer Peter, und so weiter und so fort. Zuweilen lösten sie auch Kreuzworträtsel oder sahen gemeinsam fern, schöne alte Schinken, bei denen noch ungeschminkt gelacht werden konnte: Willy Fritsch und Lilian Harvey, Heinz Rühmann, Hans Albers, Theo Lingen und Hans Moser, selbst Stan Laurel und Oliver Hardy wurden nicht ausgelassen. Selbstverständlich, natürlich, sogar Europapokalabende wurden abgehalten, wenn Benfica spielte oder Real, Inter oder Milan, Ajax oder Arsenal. Nicht selten wurde Radius Lehr bewirtet, ihre Spezialität war und ist ihr selbstgekochter Karamellpudding, den er dann und wann zu vertilgen hatte. Aus reiner Höflichkeit, das heiße Zeug, häufig dann doch zu sehr verklumpt, zumeist; die traute Zweisamkeit wurde im Laufe der Jahre zudem verändert.
ßilberling Aber nicht, weil es Streit gab zwischen den beiden. Oder etwa doch?
RLG Mitnichten, kleiner ßilberling, mitnichten. Nein, Veränderung bedeutete in unserem Fall Erweiterung. Man mutierte sozusagen zu einem Dreier der flotten Art und Weise, wenn man so wollte. Die von mir bereits erwähnte eckige Eckkneipe wurde und wird nämlich von dem treuen Ehepaar Amalie und Dimitri Hoch betrieben. Seit Jahr und Tag wohlgemerkt, aber nicht nur Theke und Barhocker durften sie ihr eigen nennen, nein, sondern auch ein Töchterchen. Mit dem sagenumwobenen Namen Anne, und kaum, dass die Kleine angefangen hatte zu laufen, das Sprechen nicht zu vergessen, fing die an, sich immer häufige und immer mehr zwischen die Stühle von Radius Lehr und Frau Fiel zu drängeln. Komplette Sonntagnachmittage wurden mit Fang den Hut oder Domino verbracht. Und seid ihrer Einschulung ließ Anne Radius lebhaft an den Hausaufgaben teilhaben. Beim ihr über das Schulter schielen war es das erste Mal seit langem, dass sich Radius Lehr mit Dingen wie Vokabeln und Formeln auseinandersetzte, und er hatte festzustellen, wie interessant dies doch noch sein konnte. So - und das war auch das, was ich dir zu erzählen hatte, lieber ßilberling.
ßilberling Hach!
RLG Na gut, du hast ja Recht. So wie immer.
ßilberling Wanderer, ach Wanderer.
RLG Allerdings erfahren meine Schilderungen nun Veränderungen.
ßilberling Soll nicht sogar so etwas schon vorgekommen sein?
RLG Ja, denn bisher war es die Vergangenheit.
ßilberling Ach, aber was auch schon ist neu? Auf dieser Welt?
RLG Schon gut; nun landen wir in die Gegenwart.
ßilberling Frei nach dem Motto?
RLG Vor zwei Tagen.
ßilberling Also vorgestern, nach Adam Riese.
RLG Die Welt noch heil und halbwegs in Ordnung. Aber dann.
ßilberling Ein neuer Einsatz braucht das Land, findest du nicht?
RLG Und Widerstand scheint zwecklos zu sein.
RLG, ßilberling Hach.
Neuer Kontostand: ein ßilberling, ein Ende
Blatt 16: Vorgestern also
Das Lindenbankhaus – Ihre Andere Bank
Auszug 35 159 23 5, Blatt 16
Aktueller Kontostand: ein ßilberling, ein Ende
RLG Vorgestern also! Ein völlig normaler Arbeitstag eigentlich, bei näherer Betrachtung. Ach, wenn es nur dabeigeblieben wäre. Nein, einen Lauf hat es genommen, ein Unglück nach dem anderen.
ßilberling Selbst wenn man nicht so gewollt hätte?
RLG Hach, mein ßilberling, hach. Nicht weit von der Werkstatt waren sie nämlich gerade beim Renovieren einer schmucken Altbauwohnung gewesen, am frühen Morgen war Radius Lehr mit einem quietschenden Leiterwagen vorgefahren, oder war es nicht so, dass eigentlich nur noch letzte Aufräumarbeiten vorzunehmen waren? Doch, doch, immerhin, zunächst Pinsel und Eimer eingesammelt und runtergetragen, Tapetenrollen, oder besser gesagt, was davon übriggeblieben, das Zuklappen der Tische nicht zu vergessen, und die zusammengekehrten Schnipsel und Abfälle blauen Müllsäcken zugefügt. Nach dem Verscharren auf dem Leiterwagen hatte dann nur noch der Boden der Wohnung geschrubbt zu werden, blitzblank wohlgemerkt, von einen jeglichen Farben – und Leimresten freigemacht. Kurz vor Mittag so gut wie fertig mit allem, unterwegs schnell noch das eingesammelte Leergut beim Tankwart Tunkel abgegeben. Gegen ein ordentliches Pfandgeld, denn war während dem Aufenthalt nicht immerhin ordentlich was zusammen gekommen; in der Werkstatt schließlich die Münzen in eine auf einem Regal zwischen einen hundertprozentig hoffnungslos verkratzten Erste – Hilfe – Kasten und einem völlig vergilbten Leitfaden für das Ausüben des Malerhandwerks rankende Blechdose zugefügt, worauf auf einem verdreckten Heftpflaster ein mit hellblauer Kugelschreibermine gekrakeltes Wort gekrakelt worden war, welches bei gutem Willen als „Kaffee“ entzifferbar. Kein Zweifel, und gekrakelt kein Ausdruck, beileibe nicht, ja, ist dem Ganzen nicht so gewesen?
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