Zu Hause ließ er sich so gut wie gar nicht mehr blicken, längst hatte die Mutter den anteiligen Sonntagsbraten in einer Frischhaltebox im Kühlschrank zu verstauen, und der Lebenswandel des einstigen Mustersprösslings besorgte inzwischen längst auch einen wie dem alten Lehr. Naturgemäß, naturgemäß, wie denn auch bei den katastrophalen Zeugnissen und einer schier endlosen Serie von Blauen Briefen? Mehr wie ihm je hätte lieb sein können, längst wurde um die im Rathaus jahrelang nach wie vor nach Strich und Faden verkündete Zukunft gebangt, Maßnahmen wie Zimmerarreste verfehlten ihre Wirkung bestenfalls, das Schiff ein Eisberg gerammt, mit voller Wucht, das Untergehen nur noch eine Frage der Zeit, das endgültige wohlgemerkt. Unvermeidbares mehr wie kein Ausdruck mehr.
So überraschte es Vater Lehr eigentlich schon gar nicht mehr, als er kurz vor Ende der Quarta eine Einladung erhielt. Vom Direktor des Gymnasiums, in Mathe – eines von Radius vielen ehemaligen Paradefächern – hatte Radius einen Sechser - Hattrick perfekt gemacht, im Zimmer von Herrn Kurz bestaunte Radius eine Photographie-Mit dem Konterfei von Charlie Chaplin
Direktor Kurz Ihr Sohn muss runter.
Vater Lehr Was fällt Ihnen ein, das können Sie nicht machen.
Direktor Kurz Für unser Gymnasium einfach nicht mehr tragbar.
Vater Lehr „Für unser was? Na hören Sie mal, und schließlich leben wir in einer Demokratie.“
RLG Der Direktor hockte auf seinem Schreibtisch und hatte die Arme verschränkt.
Direktor Kurz Dass Sie mit mir Demokratie kommen. Aber na gut, von mir aus, aber dann wissen Sie sicher auch, dass es zu einer gut geführten Demokratie gehört, dass man die Hauptstadt von Mauretanien nicht unbedingt mit der des Regierungsbezirks Köln verwechselt. Oder Karl den Fünften zum Helden italienischer Strafräume deklariert. Von weiteren peinlichen Fehlschüssen, die ihr werter Vorzeigeknabe in den seltenen Anflügen seiner Aufwartung bei uns gegeben hat, möchte ich lieber erst gar nicht anfangen zu sprechen.
RLG Der Alte sank auf seine Knie.
Vater Lehr Ich flehe Sie an, die Zukunft steht auf dem Spiel.
RLG Kurz blieb kurz angebunden.
Direktor Kurz Nein.
Vater Lehr Ich werde mich beschweren. Über Sie, das wird Konsequenzen für Sie haben.
Direktor Kurz Ach, von mir aus, tun Sie das, was Sie sowieso nicht lassen können. Immerhin würden in diesem Fall auch Sie wenigstens eine Tugend befolgen. Eine Tugend der Demokratie. Allerdings kann man Ihnen hierbei sehr viel Glück wünschen.
Vater Lehr Wir sind Ihnen doch nur nicht fein genug!
Direktor Kurz Sie führen sich auf wie der berühmte Elefant. Im noch berühmteren Porzellanladen. Und kommen mir mit fein?
Vater Lehr Das werden Sie bereuen, schwer bereuen werden Sie das.
RLG Stampfend und dampfend verließ der alte Lehr das Gymnasium, der Junge hinterher, nicht viele Steinwürfe entfernt befand sich die städtische Realschule, wo mit skeptischen Blicken über das Zeugnis gefahren wurde.
Direktor Winter Aber Herr Lehr – mit diesem Zeugnis können sie Ihren Sohn noch nicht einmal für die Sonderschule melden.
RLG Radius Lehr hatte indes eine alte Photographie bemustert. Mit Stan Laurel und Oliver Hardy diesmal.
Vater Lehr Jetzt lassen Sie uns nicht hängen, es ist wichtig.
Direktor Winter Na gut, ich werde sehen, was sich machen lässt. Ich kann mich ja mal mit meinem Kollegen Kurz kurzschließen, das kurze Ergebnis wird Ihnen dann kurz mitgeteilt.
RLG Gesagt, getan, hinterher stürmte der alte Lehr in den Ratskeller, ohne auch nur ein Wort über den Rausschmiss zu erwähnen, hätte dies nicht schließlich Zeit gehabt? Nein, ganz im Gegenteil, ersetzte mit den Prahlereien fort, so als ob nichts gewesen wäre, und abermals durfte Schankwirt Viereck Himbeergeist herbeischaffen.
ßilberling Hm.
RLG ßilberling, was ist.
ßilberling Nicht ein Wort? Ich meine, nicht ein einziges?
RLG Nein, außerdem sollte der Lauf der Dinge ohnehin einen noch ganz anderen Weg nehmen.
ßilberling Ach ja?
RLG Frei nach dem Motto.
Neuer Kontostand: ein ßilberling, ein Ende
Blatt 14: Radius flüchtete aus dem Ratskeller
Das Lindenbankhaus – Ihre Andere Bank
Auszug 35 159 23 5, Blatt 14
Aktueller Kontostand: ein ßilberling, ein Ende
RLG Radius flüchtete aus dem Ratskeller. Die Kerze in der Ecke brannte dieses Mal ohne ihn nieder. Wenn man so wollte, und erst am darauffolgenden Morgen war es so, dass Vater und Sohn wieder aufeinandertrafen. In der Küche wohlgemerkt, und Vater Lehr hatte sich wohl einmal mehr einen fürchterlichen Nachdurst eingehandelt; höchstwahrscheinlich, um es vielleicht mal dann doch etwas vorsichtiger zu formulieren. Kaum eingetreten, nahm er eine Bierflasche aus dem Kühlschrank, und erst als er am Küchentisch Platz nahm, bemerkte er, dass neben Radius noch einer saß, den er partout nicht einzuordnen vermochte, nie und nimmer. Beziehungsweise nie zu Gesicht bekommen hatte, Zeit seines Lebens wohlgemerkt, der Junge indes rührte in einer Kaffeetasse, vorläufig war es ein hundertprozentiges Stillschweigen, was vorherrschte. Einige Minuten, Stillschweigen, drei am Küchentisch, bis es am Ende doch wieder der Alte war, der nach ein paar kräftigen Schlucken aus der Pulle das Wort erfasste, frei nach dem Motto „wer denn sonst auch“.
Vater Lehr Sage mal - wo ist Mutti eigentlich?
RLG Mit dem Rührlöffel deutete der Junge auf einen Zettel. Mitten auf dem Küchentisch: „bin auf den Aprikosen– und Pfirsichmarkt.
Vater Lehr Ach ja.
RLG Ein paar weitere Schlucke aus der Flasche erfolgten.
Vater Lehr Ach, dieser verflixte Kurz, was für ein Armleuchter! Nicht wahr, mein Sohn?
RLG Von den Fremden schien er weiterhin keine sonderliche Notiz zu nehmen, obwohl dies eigentlich nahezu unmöglich sein konnte, ihn zu übersehen, denn immerhin besaß der Typ die Ausmaße von mindestens eineinhalb Gewehrschränken. Mindestens, ja, breit und riesig war kein Ausdruck, beileibe nicht, einfach nur voluminös. Ein Koloss, ein einziges Muskelpaket, dessen weißes Maleroverall so gespannt war, einschließlich dem karierten Hemd darunter, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis all dies auseinander barst; schnell noch ein tiefer Schluck.
Vater Lehr Aber dieser Winter, das ist vielleicht einer. Bei dem gelingt der Abschluss spielend leicht, das wäre doch gelacht. Und das Abitur, mein Gott, das holen wir eben etwas später nach. Und alles ist wieder im Lot.
RLG Der Junge klimperte in der Kaffeetasse, der Muskelprotz gab weiterhin keinen Mucks von sich.
Vater Lehr Etwas vom Kurs abgekommen. Sind wir, aber wer ist das nicht, in jungen Jahren. Kommt sogar in den besten Familien vor, alles muss nur wieder eingerenkt werden. Und schon bald geleitet das ins Schlingern Geratene wieder in ruhigem Fahrwasser. Na, was sagst du, mein Sohn?
Radius Lehr Das ist Herr Wieschensriether.
Vater Lehr Und die Mädchen – wer schon braucht die Mädchen? Das hat doch nun wirklich noch Zeit. Bis wir ans trockene Ufer gesegelt.
Radius Lehr Herr Wieschensriether hat eine Werkstatt.
Vater Lehr Später könnte ich mir durchaus vorstellen, Großpapa zu sein. Sehr gut sogar, ja, warum denn auch nicht?
Radius Lehr Herr Wieschensriether will mich einstellen.
Vater Lehr W – was!“
RLG Fast schon wie im Stile eines Fußballtorwarts sprang er bis an den Kühlschrank. Eine frische Pulle auf den Tisch geknallt, schüttelte er schließlich den Kopf.
Vater Lehr Aber das geht doch gar nicht. Wo wir doch ganz andere Pläne haben.
RLG In einem der nächsten Momente warf sich der Koloss auf die Knie, neben dem Tisch, mit den Blicken zum Alten hoch, die Mütze runter.
Otto Wieschensriether Um Euer Fleisch ich Euch ersuch.
Ja, um Euer eigen Blut ich buhle.
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