Gleichsam wie ein sterbender Schwan kauerte er vor dem Behälter vor der Linde, die dumme Krähe über ihn, dass die nie Ruhe geben konnte. Mit dem Anbruch der Dämmerung schlich er heim, zur Freude von Mutter und Vater entwickelte sich der Junge in den darauffolgenden Jahren zu einem überragenden Grundschüler. Stets wurden Bestnoten nach Hause gebracht, vor allem der väterliche Stolz kannte keine Grenzen, wahrlich, wahrlich, und nie hatte er auch nur den leisesten Hauch eines Zweifels.
Kurzerhand meldete er Radius, als es endlich soweit gewesen war, am Gymnasium an. Dies befand sich allerdings unten in der Stadt, hinterher suchte er noch mit dem Spross an der Hand den Stammtisch im Ratskeller auf. Dort war er kein Unbekannter, beileibe nicht, nebst einigen honorigen Ratsherren waren außerdem anwesend der Amtsrichter Knöll, zur besten Tageszeit wohlgemerkt, der Schafbauer Fried, der es sich nie nehmen ließ, nach seinen Herden zu riechen, der ambitionierte Kleinbürgermeister Klein sowie der Stadtpfarrer Kühnert mit der scheinbar ewig währenden Kapuzinerkapuze.
Der eigentlich knausrige Lehr war in bester Geberlaune, keine Frage, mehr wie ein paar Mal ließ er vom korpulenten Schankwirt Viereck eine Runde Himbeergeist auftragen, eine nach der anderen, und umso fortgeschrittener die Stunden, desto lockerer und ausgelassener wurde die Stimmung am Stammtisch. Vater Lehr ließ kaum eine Gelegenheit aus, um in allerhöchsten Tönen von seinem Sohn, welcher an einem leicht verschrammten Holztisch in einer spärlich beleuchtenden Ecke an einer schummrig flackernden Kerzenflamme spielte, zu prahlen.
Vater Lehr Das Genie par excellence ist geboren, heute fängt die Zukunft an. Mein Junge ein Naturtalent, ein Wunderkind, etwas ganz Großes wird aus ihm. Das steht fest, einer, den die Welt noch nicht gesehen hat, es ist nur noch eine Frage von Zeit, bis alles bisher Dagewesene in den Schatten gestellt wird.
RLG Draußen hatte es längst angefangen zu dämmern, was einem wie dem alten Lehr keinesfalls von überhaupt irgendwas abhalten konnte, ganz im Gegenteil, ganz im Gegenteil, im Eifer des Gefechts hätte er beinahe sogar den Kleinbürgermeister Klein bespuckt.
Vater Lehr Wer schon ist denn Goethe – wer schon! Sagen Sie es mir, sagen Sie es mir doch. Oder ein Schiller, ein Lessing oder Kleist, selbst einer wie der Schopenhauer. Alles nichts weiter wie Scheißdreck! Im Vergleich, oder Hegel! Voltaire! Beethoven, Newton, Michelangelo, Da Vinci, nein, einfach nichts.
RLG Na ja, dass man sich unter Umständen leicht hätte verbrennen können, stand an jenem Abend wohl auf einem anderen Blatt; oder etwa nicht? Trotz des höhnischen Gelächters am Stammtisch übte sich der Lehr mit jedem Bier und mit jedem Himbeergeist mehr in mehr in ellenlange Monologe, die an Monotonie nichts zu wünschen übrigließen. Aber auch rein gar nichts, Pfarrer Kühnert hingegen sorgte mit dem Einstreuen von Witzen für eine gewisse Auflockerung und Entspannung des Ganzen.
ßilberling Witze?
RLG Ja, gewiss doch, zwischendurch.
ßilberling Erzählst du mir einen?
RLG Aber ßilberling, wo ich doch lieber den normalen Kontext fortfahren möchte.
ßilberling Ach bitte, bitte, nur einen einzigen.
RLG Außerdem weiß ich doch auch keinen mehr. Wie lange all das zurückliegt.
ßilberling Hach!
Neuer Kontostand: ein ßilberling, ein Ende
Blatt 11: Einen weiß ich vielleicht noch
Das Lindenbankhaus – Ihre Andere Bank
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Aktueller Kontostand: ein ßilberling, ein Ende
RLG Einen weiß ich vielleicht noch.
ßilberling Na also, geht doch. Man muss nur wollen.
RLG Vielleicht habe ich gesagt, vielleicht, Pfarrer Kühnert gab etwas kund. Über einen Kollegen.
ßilberling Ein Pfarrerwitz – prima!
RLG Soweit ich mich entsinne, ging es um den Pfarrer Windik.
ßilberling Evangelisch? Katholisch?
RLG Ob evangelisch, ob katholisch, was spielt das für eine Rolle? Aber der Kollege, über den Kühnert erzählte, das war, soweit ich mich entsinne, dann doch wieder ein katholischer. Glaube ich.
ßilberling So weit, so gut.
RLG Denn Pfarrer Windik war ein frommer Mann,
Buchstäblich betrachtet, und nicht nur dann und wann.
Die Kirche, die er diente, war sein Dorf,
Und das Dorf, das war seine Kirche.
Gut gefüllt sie war, Sonntag für Sonntag,
Von der Kanzel die Frohe Botschaft,
Und so manch gut gemeintes Wort.
Und dies Woche für Woche.
Aus vollen Kehlen wurde gesungen,
Männer, Mädchen, Frauen, Jungen,
Die Schafe treu und immerdar.
Doch sollte der Tag nahen,
Als die Reihen sich zu lichten begannen.
Denn es fehlte auf einmal der Bauer Lahmen.
Das war vor Jahr - vor Jahr und Tag.
Sein Traktor kippte einfach in einen Graben.
Das ist die Geschichte von Pfarrer Windik
Und der alten Witwe Lahmen,
Wie sie leibten, wie sie lebten;
Eine Geschichte wie sie es heute
Wird nicht mehr geben.
Bis heute weiß keiner warum, weshalb.
Auf dem Kirchhof ein kleines Grab
Ein zierliches Kreuz aus purem Holz,
Das wurde nicht gepflegt.
Unkraut rankte und rankte und rankte
Von der Witwe Lahmen keine Spur.
Vermisst ein jeglicher frommer Stolz,
Was sich mit keinerlei Kirchenpflicht vertrug.
Doch keineswegs ließ Windik sich lumpen,
Denn aus seinem alten Schuppen
Schob er sein Gemeindefahrrad hervor.
Mit dem machte er sich auf den Weg
Zur guten, alten Witwe Lahmen.
Um ihr zu verleihen geistliches Gehör,
Denn erfüllte das Grab nicht viel zu wenig seinen Zweck?
Ja, es war bitter nötig, wie er fand.
Zu radeln hinaus auf das weite Land.
Über Stock, und auch über Stein,
Vorbei am wilden Wuchs und an den Feldern.
Auf dem Hof krähte kein Hahn mehr,
Kein Tier, Windik fiel es schon schwer
Zur Witwe, die einsam und allein.
Die sich freute über den völlig Unangemeldeten.
So kehrte er ein in die Bauernküche,
Wo erfüllten so manche süßen Gerüche
Den warmen Bauernraum.
Die Bauernwitwe nämlich am Bauernofen stand.
Sie buk Pfannkuchen, einen nach den anderen.
Allein dafür hatte es sich wahrlich gelohnt, dass Ausfahren.
Die Düfte wahrlich ein wahrer Traum.
Das Knurren im geistlichen Magen.
Das ist die Geschichte von Pfarrer Windik
Und der alten Witwe Lahmen,
Wie sie leibten, wie sie lebten;
Eine Geschichte wie sie es heute
Wird nicht mehr geben.
Auf dem verfallenen Bauerngut,
Der Bauernofen mit der Feuerglut,
Pfannkuchen gebacken und gewendet,
Stück für Stück, ach, was wollte man mehr?
Mit Eiern und Äpfeln, Äpfeln und Eiern,
Gab es am Ende gar was zu feiern?
Ein hoher Stapel, scheinbar nimmer endet,
Der geistliche Magen - erfüllt von Kohldampf und Schmerz.
Die Alte ließ sich auch nicht zweimal lumpen,
War nicht ganz gesund, hatte Schnupfen.
Was sie vom Gastfreundlichen nicht abhielt.
Ganz im Gegenteil, wie wir gleich erfahren.
Ach, Herr Pfarrer, nun nehmen sie doch einen.
Innerlich war der war aber am leisen Weinen.
Denn mit einem Auge auf die Witwe geschielt,
Ach, könnte die Frau ihm denn gar nichts ersparen?
Die Krankheit bemerkt am feurigen Bauernofen,
Verkühlt die Nase, erhitzt der Schnupfen,
In der Pfanne und Teig mit einem Finger,
an die tröpfelnde Nase wieder.
Das war es ja eben, ständig am Laufen,
Durch die Hitze, war es nicht zum Haare raufen?
Unterm Strich mit Ekel gebackenen in der Pfanne.
Trotz hungrigem Magen war es ihm zu wider.
Er wandte sich und lehnte ab,
Dann eben nicht, meinte die Bäuerin,
Zuckelte nur noch mit den Achseln.
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