Hinter ihm befand sich vor einem sommerdichten Gebüsch eine uralte Holzbank, um sie vom Unterholz am Ufer zu erreichen, musste lediglich ein geteerter, schmaler Schotterweg überquert werden. Nicht wirklich viel, selbst für einen kleinen Jungen, ein paar Schritte, durch das Dickicht gezwängt, dahinter eine kleine Lichtung, wo sein Erscheinen zunächst auf weniger Gegenliebe stieß.
Chantal Island Radius – was soll das!
RLG Chantal war gerade am Drehen ihres Jeanspants - Knopfes, die andere Hand am Reißverschluss, der nun ungeöffnet blieb; vorläufig wohlgemerkt.
Chantal Island Ja, ja, bei Mädchen spicken, das ist alles, was du kannst.
Radius Lehr Ich zeige dir auch was. Wenn du mir was zeigst.
Chantal Island Nichts werde ich dir zeigen, du, du - du Ferkel. Und jetzt verschwinde endlich!
RLG Das tat er nicht, nein. Ganz und gar nicht, wie ein Angewurzelter, mit einer Hand unter ihrer Nase, was Verzückung hervorlockte.
Chantal Island Oh, wie schön es ist, so etwas Wunderschönes habe ich noch nie gesehen.
RLG Radius fühlte ein Obenauf.
Radius Lehr Ich gebe es dir. Wenn du mir endlich was zeigst.
RLG Chantal Island war verärgert, davon war auszugehen, das war anzunehmen, ihre Lippen am Vibrieren, wurden schließlich nicht die Bedürfnisse, welche überhaupt erst zu dem Aufenthalt hier im Gebüsch geführt hatten, durch blankes Rumstehen nicht gerade angenehmer, oh, gewiss war dem so, ganz bestimmt. Nach ein paar Momenten des absoluten Stillschweigens zwischen dem hübschen Mädchen und dem hübschen Jungen zwinkerte sie mit einem Auge, biss sich auf die Unterlippe, und zuckelte mit den Achseln.
Chantal Island Okay, ich zeige dir was. Wenn du mir dafür dein Herz gibst.
RLG Der zwischenkindliche Deal schien, um es mal so zu formulieren, in trockene Tücher gelegt. Und das im Rahmen eines durchaus schattenspendenden Gebüsches, nur für ein paar wenige Augenblicke hielt Chantal ihren neuen Glitzerbesitz gegen das Licht, um es dann in ihre Jeanspants – Pocket verschwinden zu lassen. Radius indes machte nun einen auf Ungeduld.
Radius Lehr Jetzt bist du dran. Mit dem Abgemachten.
Chantal Island „Ja, ja, schon gut, bringen wir es hinter uns. Ein Ferkel bist du trotzdem. Mit oder ohne Herz.
RLG Ihm dann schnell noch ans Brustbein geknufft, so dass er ein, zwei Schritte zurück stolperte. Mitten im Gebüsch, mit Argusaugen jedoch der Jeanspants - Schoß anvisiert, wo tatsächlich begonnen worden war, am Jeanspants- Knopf zu drehen. Langsam wohlgemerkt, langsam und äußerst vorsichtig, mit der anderen Hand ein wenig am Reißverschluss gezupft, und ob es Ende nicht mehr wie eine kleine Geduldsprobe wurde? Für die kindliche Neugierde vor dem Mädchen, zu mehr sollte es auf der anderen Seite an jenem brütend heißen Sommertag sowieso nicht mehr kommen, denn wurden sie nicht plötzlich jäh aus ihrer trauten Zweisamkeit gerissen? Mitten in einem sommerlich verträumten Gebüsch? Von einem furchterregenden, lauten Niesen und Gekrächze, welches wie aus einem heiteren Nichts bis zu ihnen gedrungen war? Ja, eiskalt den Rücken lief es runter, beiden wohlgemerkt, und als Chantal mit dem kleinen Jungen aus dem Dickicht hervor geprescht war, erstarrten sie vollends, hatte sich nicht schließlich auf der uralten Bank vor ihrem Gebüsch jemand eingefunden, der durch und durch gammelig war. Nein, besser hätte man den nicht bezeichnen können, abgemagert bis auf Haut und Knochen in hoffnungslos zerrissenen und verdreckten Lumpen gehüllt, die Furchen im nicht erkennbaren Gesicht tief und dunkel, vertrocknete Rinnsale glitzerten an den Augenhöhlen herunter. Aus einem Kästchen auf dem Schoß rankte Schnupftabak, fürwahr, fürwahr, das heftige Niesen war sehr laut und unentwegt, so dass einem schlecht geworden wäre. Wenn man davorgestanden wäre. So wie unsere beiden Kinder, das einzige, was ihnen in jenen Momenten beschieden wurde, war die Tatsache, dass der auf der Bank keine Notiz zu nehmen schien. Von ihnen, von Chantal und Radius, nicht ein einziges Aufblicken, ganz offenkundig hinderte ihm der Niesanfall zu sehr am Wahrnehmen von anderem, dafür ertastete er den Rucksack neben sich, aus dem ein rosafarbenes Taschentuch gezückt wurde. Längst die kindlichen Herzen am Stocken, beim Ausschwenken entpuppte das sich nämlich als rosa Damenhöschen, ach, du meine Güte, was war denn das für einer? Und wenn das doch alles gewesen wäre, aus dem durchaus reizvollen Wäschestück blitzte nämlich etwas hervor. Etwas wie ein Papierschnitzel, in einem der nächsten zur Verfügung stehenden Momente wurde es von einer Böe erfasst, so dass es in die Höhe geschwirrt wurde, hastig und nervös versuchte der Fremde nun es wieder einzufangen, vergeblich freilich, vergeblich, denn mit jedem Mal, mit welchem er nach dem Fetzen grabschte, wurde es weiter geweht. Unterm Strich betrachtet blieb ihm nichts Anderes übrig, wie dem Ding hinterher zu hecheln. Was er auch tat, mit Sack und Pack wohlgemerkt.
Und noch ein gutes Weilchen starrten Chantal und Radius ihm hinterher, ja, lang genug noch, auch, nachdem er eigentlich schon längst verschwunden war. Aus den Augen, und die Vögel, sie zwitscherten, die Bäume raschelten und der kleine Fluss plätscherte und plätscherte, als ob nie was Anderes gewesen wäre. Chantal war von beiden dann die Erste, die wieder zu Bewegung zurückfand. Nach der seltsamen Begegnung mit dem Seltsamen, auf dem Weg zurück zu den anderen stolperte sie unmittelbar vor dem knarrenden Holzsteg über eine Bierdose. Silberfarben war die, silberfarben und leer, und auf den Hosenboden geplumpst, regelrecht wohlgemerkt.
Chantal Island Radius – komm!
RLG Sie zerrte den kleinen Jungen dann über den Steg, wo umgehend von der Begegnung mit den Unwirklichen berichtet wurde, was wiederum ein Alarmieren der lokalansässigen Polizeikräfte zur Folge hatte. Das bewaldete Areal wurde weiträumig abgeriegelt, weiträumig und großzügig, und von Spezialsuchtrupps auf den Kopf gestellt. Nein, anders hätte es wirklich nicht gesagt werden können, mehr wie die silberne Bierdose am uralten Holzsteg konnten sie jedoch nicht ausfindig machen. Vorläufig zumindest, vorläufig, von dem Kerl fehlte eine jegliche Spur, mehr wie im wahrsten Sinnsinn, ja, genauso wie er aufgetaucht war, so war er auch wieder verschwunden. Gleich Phoenix aus der Asche, beziehungsweise gleich einem wie vom Erdboden Verschluckter, für den korpulenten Kriminalhauptkommissar Huber, in dessen Hände sämtliche Ermittlungszügel zusammengehalten wurden, war das Erscheinen des Mannes, von dem Chantal und Radius die Beschreibung zum Besten gaben, wobei sie hektisch waren, hektisch und nervös, eine Sensation. Schlichtweg, immerhin passte sie haargenau wie die Faust aufs Auge, will damit gesagt worden sein, zu einem Kindermörder früherer Tage. Ja, ja, und das war nämlich einer von denen gewesen, die nach ihrer Tat untergetaucht waren, und seither nie wiedergesehen worden waren, und die landesweiten Fahndungen waren sehr lange schon auf ein Mindestmaß reduziert worden. Denn über die vielen, vielen Jahre war nämlich gerade auch in polizeilichen Kreisen die Überzeugung herangereift, dass selbst so einer eines Tages von den Würmern gefressen worden hätte müssen, so sehr von ihm Unvorstellbares ausgegangen war. Tatsächlich war er seit den tragischen Geschehnissen von anno dazumal nie wieder erspäht worden. Doch, ein einziges Mal, frei nach dem Motto „die sogenannte berühmte Ausnahme von den noch berühmteren Regeln“. So hatte einmal ein Judoka geglaubt, den Gesuchten einmal passiert zu haben. Beim Joggen vorbei an einem Stadtbrunnen, freilich hatte sich dieser Hinweis - im Übrigen der einzige konkrete bis heute - als ein Sturm im Wasserglas entpuppt. Denn noch bevor überhaupt jemand von der Polizei eingetroffen war, war der höchst Verdächtigte längst über sämtliche sieben Berge der Welt. Wie gesagt - natürlich, selbstverständlich, was denn sonst auch?
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