Jecki Wir treffen uns nach der Schule. In einem Schuppen. Etwas außerhalb. Wenn du willst.
RLG Nachdenklich brütete Radius am Nachmittag über irgendwelche englischen Vokabeln beziehungsweise irgendwelche Matheformeln, bis er auf den Trichter kam; an der strickenden Mutter vorbei, gelang es ihm wieder einmal, die Wohnungstür unbemerkt zu zu klacken. Im Zentrum unten stieg er in einen anderen Bus um, mit welchem er bis zur Westgrenze unserer Stadt gelangte, wo sich eine Schrebergartenanlage befand. Es roch nach wilden Kräutern, nach Gurken und Süßgräsern, über teilweise recht schmale Pfade fand er in der Tat den von Jecki in die Waagschale geschleuderten Schuppen. Wo er auf die auf Tischen lungernden Sextaner traf, allesamt in Lederkluft und Jeans, mit Zigaretten und Bierflaschen bewaffnet, aus einem einfachen Kassettenrekorder leierte unentwegt Rock ‘n‘ Roll, wobei man sich nicht nur mit Buddy Holly zufriedengab, sondern natürlich auch mit Elvis, Jerry Lee Lewis, Carl Perkins, Chuck Berry, Fats Domino, Eddie Cochrane oder Danny And The Juniors. Der schlaksige Loko bot ihm einen Schluck an, zu sehr erwärmte das schaumige Zeug den Hals, nach dem obligatorischen Zug am Glimmstenge war ihm zum Erbrechen zumute, auf gummiweichen Knien wurde dann sehr bald schon wieder der Heimweg angetreten.
Doch was zu jenen Zeitpunkten niemand erahnen konnte, nicht einmal so etwas wie ich, von dem im Ratskeller nach wie vor herum pausenden Vater ganz zu schweigen ist, dass der Lack am vorbildlichen Vorzeigesextaners Sprünge erhalten hatte. Gewaltige wohlgemerkt, welche sich bald schon zu einem größer werdenden Leck entwickeln sollte. So dass es nur eine Frage der Zeit war, bis das Erfolgsschiff ins Schlingern geriet. Wohlweislich wohlgemerkt, jedenfalls ging Radius mit der Meute am nächsten Tag gleich mit bis in den Schrebergarten. Äußerlich glich Radius sich den neuen Kumpanen alsbald an, gleich aus zweierlei Quellen wurden Jeans und Lederjacke finanziert. Von Zigaretten und Bier ganz zu schweigen, dies waren zum einen im Gedränge von Gemüse – beziehungsweise Obstmärkten und erste, vollzogene kleinere Taschendiebstähle, frei nach dem Motto „lediglich den einen oder anderen langen Finger ausstrecken“. Zum anderen ein für Radius Lehr allmählich aufkommender Aushilfsjob, was für ihn nur wenige Jahre später noch bedeutender werden sollte. Im wahrsten Sinnsinn, verspätetes Heimkommen wurde zur Regelmäßigkeit, die Mutter war mehr wie einmal ob seines penetranten Nikotingeruchs am die Nase rümpfen, selten noch war der Zustand des Heranreifenden ein einwandfrei nüchterner.
Vater Lehr Ach was – was ein richtiger Mann werden will, trinkt schon mal einen über den Durst. Was noch niemand geschadet hat. Wozu also die unnötige Aufregung, solang die Noten stimmen.
RLG Diesbezüglich hatte sich in der Tat dann doch noch nicht allzu viel verändert. Noch nicht, trotz aller Vernachlässigungen gab es noch keine gravierenden Auswirkungen auf Radius Notenspiegel, und noch brachte er weiterhin eine Eins nach der anderen nach Hause, nur ab und an hatte sich eine Zwei eingeschlichen. Doch umso länger das Schuljahr anhielt, umso häufiger glänzte Radius durch Zuspätkommen oder gar hundertprozentiger Abwesenheit, und dem Vater konnten weder ein erster Blauer Brief noch eine am Ende doch etwas überraschende Drei im Halbjahreszeugnis vom Daueroptimismus abbringen. Nein, noch nicht, im Gegensatz zur Mutter, und die Drei in Englisch wohlgemerkt.
In Wirklichkeit aber hatte Radius die Sache mit den Vokabeln und den Formeln eigentlich längst schon abgeschlossen, innerlich sozusagen, denn für was er sich jetzt noch interessierte, waren Zigaretten und Bier und Musik, wobei sich alsbald noch was ganz Anderes dazu gesellen sollte. An einem der viel gewordenen Nachmittage weilte mit Wallie plötzlich eines der Mädchen aus ihrer Sexta unter ihnen, gleichfalls in Lederjacke und Jeans, frei nach dem Motto „was denn sonst auch“. Es war einer jener merkwürdig schwülen Frühlingstage, soweit ich mich entsinne, das warme Bier, im Hals längst ein Kloß, mit letzter Mühe hatte sich Radius bis in eine Ecke zu eine der muffigen Matratzen geschleppt, von weitem bellte ein Hund, viel später freilich, viel, viel später, und grelles Licht fiel in den Schuppen ein. Ja, ja, trockener er seltener war, der Hals wohlgemerkt, Radius am Krächzen und Husten nach Luft, und soweit es der offenkundig unabwendbare Kater zuließ, konnte er ein hundertprozentiges Alleinsein feststellen. Seinerseits wohlgemerkt, nein, niemand anders mehr war im Schuppen.
Gerade noch rechtzeitig zur großen Pause erreichte Radius Lehr den Hof des Gymnasiums, wo die Clique bereits versammelt war. Wie ihm war, wusste er nicht, beziehungsweise wurde, bis es der neue Kumpel aus der Sexta war, der ihn aufklärte.
Jecki Die Wallie lag die ganze Nacht auf deiner Matratze. Neben dir.
RLG Radius Lehr kratzte sich am Kopf, tja, und unter einem hundertprozentigen Wachsein hätte man sich fürwahr was Anderes vorstellen können.
Jecki Ich glaub, die steht auf dich. Dein Glück müsste man haben.“
RLG Wohlweislich auf die Schulter geklopft, im Klassenraum saß Wallie ein paar Schulbanktakte vor ihm, doch zunächst setzte es eine Standpauke.
Pauker Stand Dein Zuspätkommen ist wieder mal mehr wie eigensinnig. Von eigenmächtig ganz zu schweigen.
RLG War das nicht etwas, was dem Radius Lehr gleichsam interessierte wie die Grundmenge der natürlichen Zahlen einen Bruch? Und hatte er nicht ohnehin nur noch Augen für sie? Allerdings gelang ihm nicht allzu viel zu erhaschen, zu weit vorne, ein paar Augenzwinkern von ihr, zugelächelt nein, nicht mehr. In der nächsten Pause konnte Radius Lehr Wallie dafür an der schwenkenden Milchglastür zu einer der Mädchenräume erwischen. Am Ellenbogen, so dass man nun Auge in Auge war, um es mal so zu formulieren.
Wallie Wieso – hat es dich gestört?
Radius Lehr Wie denn, ich habe doch die ganze Zeit geschlafen.
Wallie Ach so, aber es hätte dich gestört. Wenn du es gemerkt hättest.
RLG Wallie konnte sich loseisen, und verschwand in den Mädchenräumen; durch das unabwendbare Nachsitzen bei Pauker Stand war seine Rückkehr in den Schrebergarten eine verspätete. Doch von nun an war es üblich, dass es Wallie war, mit welcher sich Radius Lehr zurückzog. Von Zeit und Zeit tummelten sich jedoch auch andere Mädchen aus der Sexta im Schuppen. Beziehungsweise auf den muffigen Matratzen, gerne auch mal zwei, drei oder gar noch mehr, dann lag man eben etwas zusammengedrängt oder übereinander. – Hallo, ßilberling, was ist mit dir?“
ßilberling Ach, ich weiß nicht, sind‘ s nicht zu viel der muffigen Matratzen?
RLG Also doch zu viel – als ob ich‘ s nicht befürchtet hätte.
ßilberling Ein Strich.
RLG Einen was?
ßilberling Hach.
Neuer Kontostand: ein ßilberling, ein Ende
Blatt 13: Was lang währt, wird endlich gut
Das Lindenbankhaus – Ihre Andere Bank
Auszug 35 159 23 5, Blatt 13
Aktueller Kontostand: ein ßilberling, ein Ende
RLG Was lang währt, wird endlich gut. Denn inzwischen war es dann doch soweit. Radius Lehrs Lebenswandel beeinflusste nachhaltig den Notenspiegel; mehr und mehr wohlgemerkt, ein rapides Purzeln war kein Ausdruck mehr, nein, beileibe nicht. Im wahrsten Sinnsinn.
War es aber nun noch nicht einmal allzu lang her, dass eine Zwei eine gelegentliche Ausnahme war, so war es inzwischen eine Drei geworden. Allmählich, aber sicher, noch einen Unterschied gab es hierbei: eine Zwei war einstmals die schlechteste Zensur, etwas, was man über die Drei nicht mehr behaupten konnte, ganz im Gegenteil, und in diesem Fall ist das „ganz im Gegenteil“ wortwörtlich zu nehmen, im besonderen Maße wohlgemerkt. Zehntausendprozentig, ach, was erzähle ich, schon in die Quinta wurde er nur noch aufgrund der anteiligen Vorzensuren des ersten Halbjahres versetzt, die jedoch dann nur noch mit äußerster Mühe und Not überstanden werden konnte. Folglich wurde die Quarta zur Schlussstation, ein endgültiges Abgleiten unabwendbar.
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