Gerade im Prägealter, wie nach der Geburt und in der Krippe, meinte Herr R.
Zerstöre eine solche Praxis nicht den Menschen, fragte Frau R. etwas echauffiert.
Freilich müsse bei den vielen Maßnahmen die Psyche der Kleinen stärker in den Mittelpunkt gerückt werden. Aber die Mütter bekämen doch bezahlten Urlaub und das ein Jahr lang, sagte Sonja etwas energisch.
Für die Gleichstellung der Frau werde doch im Osten mehr getan als im Westen, warf Ulrich ein.
Trotzdem sei in der ganzen Gesellschaft noch das Patriarchat vorherrschend, sagte jetzt Gundula mit Nachdruck.
Da habe sie recht, im Zentralkomitee der Obersten keine Frau, sagte Manfred Morgenroth.
Sie glaube, in der offiziellen ostdeutschen Gesellschaft spiele der fühlende Mensch nur eine untergeordnete Rolle, sagte Frau R.
Das sei in der gesamten marxistischen Theorie der Fall. Der Mensch sei eben eine Produktivkraft, Empfindungen seien Nebensache, sagte Ulrich.
Später kamen sie auf die Schriftsteller zu sprechen. Herr R. als Organisator im Kulturbetrieb meinte, dass die Schriftsteller in Ostdeutschland nicht die Wahrheit sagen dürften.
Der Umgang mit der Wahrheit sei schon ein Problem, oben wie unten, reflektierte Sonja. Klar, kritische Punkte der Gegenwart würden häufig ausgespart, weil viele wüssten, dass sie bei Kritik an den Zuständen in Schwierigkeiten geraten könnten.
Ja, wenn man die außenpolitischen Seiten des Zentralorgans anschaue, springe so eine primitive Parteilichkeit n ins Auge. Bei der Vergabe von Adjektiven durch die Presse habe der gelernte DDR-Bürger sofort zu erkennen – ob Freund oder Feind, erläuterte Gundula.
Sie sprachen noch über das unerwartete Zusammentreffen der drei Ehepaare an diesem Abend und über die Ehe.
Herr R. fragte rhetorisch, ob nicht der äußere Druck im östlichen Land auf die Festigkeit der Ehe gewirkt habe und den Wunsch nach Sicherheit, nach einem Menschen, auf den man sich verlassen konnte, genährt habe.
Gundula Morgenroth reflektierte, dass Herr und Frau R. mit ihrer widerständigen Art wohl nicht im Osten hätten leben können. Wenn sie dauerhaft in dem zentralistisch geleiteten Land weilten, würden sie sicherlich Ärger bekommen. Sie blieb aber zurückhaltend.
Sehr spät trennten sie sich. Der Besuch ging.
Thalheims räumten das Geschirr weg.
„ Menschen miteinander gibt es nicht“ Kurt Tucholsky
Mittwochs fand die Dienstberatung der ersten Leitungsebene im Elbpharmwerk statt.
Der etwas korpulente Betriebsdirektor des Elbpharmwerkes, Martin Weise, verließ kurz vor Beginn der Beratung, frisch gekämmt, im weißen Kittel, gefolgt von seinem persönlichen Referenten und der Sekretärin, sein Büro. Seine anscheinend gefärbten Haare trug er relativ lang, sie bedeckten vollkommen seine Ohren.
Während in den Labors und Arbeitsbereichen des Werkes entsprechende Arbeitsschutzkleidung angelegt wurde, trugen die Mitarbeiter außerhalb dieser Bezirke weiße sogenannte Wegekittel. In allen Bereichen, einschließlich der Toiletten zeigte sich eine vorbildliche Sauberkeit, die selbst WHO-Inspektoren positiv bei Inspektionen hervorhoben.
Die Sekretärin verschloss die Tür. Majestätisch, erhaben durchschritt Direktor Weise mit seinen Büromitarbeitern im Gänsemarsch den aus der Jugendstilzeit stammenden, im schlichten Weiß gehaltenen Korridor in der ersten Etage, der im Krieg zwar zerstört war, aber fast im Originalzustand wieder hergerichtet worden war. An der Decke des Korridors waren noch Elemente des ehemaligen Kreuzgewölbes zu erkennen. Der Treppenaufgang zu dieser Etage war breit gestaltet. Licht, das durch die Bleiglasfenster fiel, erhellte besonders den ersten breiten Absatz der Treppe. Kurz vor der Tür zum Sitzungsraum befand sich, seitlich in die Wand eingelassen, ein in blau und ockerfarben gefliester ehemaliger Wasserspender, rechts daneben stand auf einem Sockel eine Figur aus Kupfer, die beim Bombenangriff einige Dellen davongetragen hatte.
Die wöchentliche Dienstberatung war eine Arena, in der Weise nicht nur die Betriebsabläufe kontrollierte und Einfluss nahm, sondern in der er auch seinen Willen gegen Widerstrebende durchsetzte. Es schien sein ungebremstes Machtgefühl zu befriedigen, wenn er lustvoll, seinem Trieb folgend, Zwang ausübte. Auf dieser Bühne konnte er seine gespielte Überlegenheit unter Beweis stellen, seine Stellung in der Hierarchie nutzen, um die Selbstsicherheit anderer Leiter zu brechen und seine Macht und Autorität zu demonstrieren. Sicherlich hatte er Tucholskys Worte im Sinn: „Menschen miteinander gibt es nicht. Es gibt nur Menschen, die herrschen und solche, die beherrscht werden.“
Um die Machtverhältnisse auch visuell sichtbar zu machen, hatte Weise sicherlich stets den Ausspruch Molieres vor Augen: „Macht ist da, wo die Bärte sind“, denn seinen Kinnbart pflegte er stilsicher und auffällig. Zwar eiferte er nicht Salvatore Dali mit dem Schnurrbart nach, der meinte, dass ein Mann ohne Bart nicht richtig angezogen sei. Eher war der Spitzbart sein Markenzeichen, wie bei dem obersten Herrn, der seinen Spitznamen danach erhielt. Für Weise war der Bart kein Mode-Accessoire, sondern ein Zeichen der Macht und der körperlichen Vitalität. Mit dieser Zierde der Männlichkeit könne er sich den Herausforderungen des Lebens stellen, wie er manchmal betonte. Die Betonung der Machtansprüche stand für ihn im Vordergrund.
Weise wandte mehrere Praktiken zur Durchsetzung seiner Machtambitionen an. Zur Disziplinierung aller Leiter übte er in Abständen Kritik an einzelnen Bereichslenkern, die wenig Geschick hatten, sich zu verteidigen. Gleichzeitig suchte er sich solche Leiter aus, deren Bereich nur untergeordnet wichtig für den Betriebsablauf war.
Weise eröffnete die Sitzung mit dem Punkt Verschiedenes/Informationen . Er wies auf den bevorstehenden Tag der Republik hin, Elbpharm habe für eine Betriebsfeier den Kulturpalast gemietet.
Nach dieser Information herrschte er den Leiter der Gütekontrolle, Dr. Wolf Meyer, an, dem der Stall mit den Versuchstieren unterstand. Es sei unerhört, dass im Tierstall Fremdesser geduldet werden. In der vergangenen Nacht sei die Tür zum Tierstall nicht verschlossen gewesen, sie habe offen gestanden und Wildkaninchen haben vom Futtervorrat gefressen und sich um die Ställe mit den Laborkaninchen getummelt. Wie solle man angesichts solcher Schlampereien den Laborwerten trauen können, wenn womöglich Fremdinfektionen eingeschleppt würden. Weise kündigte bei Wiederholung eine Disziplinarmaßnahme an. Mit solchen Äußerungen versuchte Weise, vor allem die anderen Leiter und Direktoren zu disziplinieren. Der parteilose Meyer konnte sich schlecht wehren. Diesen Umstand nutzte Weise, wenn er in Abständen Kritik übte . Nicht immer wurden die Ankündigungen umgesetzt, denn es war entscheidend, um welchen Direktor es sich handelte.
Gegen den Direktor für Produktion wurde selten massive Kritik geäußert. Die Produktion war nun mal das Herzstück des Betriebes, ihm gegenüber wurde Nachsicht geübt, ihm begegnete er mit Wohlwollen. Weise begnügte sich bei ihm mit freundschaftlichen Hinweisen.
Selbstbewusst auftretende, auch mal widersprechende Direktoren wurden von Weise besonders im Blick behalten und bei jeder sich bietenden Gelegenheit beauftragt, Vorlagen anzufertigen. Sie mussten die Macht spüren und fühlen. So genoss Weise den höchsten Kitzel und die Befriedigung des gierigen Verlangens nach Gebrauch der Macht. Ihnen musste er zeigen, dass es von Vorteil ist, in seiner Macht zu stehen.
Weiterhin stabilisierte Weise seinen Machtapparat in der Firma durch Einstellung von ehemaligen Armeeangehörigen. Solche Kader waren an militärische Disziplin gewöhnt und führten ohne Widerrede das aus, was er anordnete.
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