In der Küche trug sie eine Kittelschürze über ihre Tageskleidung.
Was, wenn es plötzlich klingele und Frau Hartwig aus dem zweiten Stock frage nach Backpulver, meinte Frau Mehnert. Da lege sie rasch die Schürze ab und sei gut angezogen.
Die Schürze sei eben ein praktisches Ding für zuhause. Viele Frauen betrachteten die Kittelschürze als Oberbekleidung. Dieses gewickelte Kleidungsstück, bügelfrei aus leichtem Stoff, aus Polyamid, eben aus Dederon, liege eng am Körper an und umhülle den Leib mit der Unterwäsche wie die Pelle die Wurst. Haben sich manche Frauen erst einmal darin einwickeln lassen, kämen sie womöglich nie mehr aus ihr heraus. Aber Luise Mehnert fühle sich als kluge, moderne Frau, sie habe immer was Gepflegtes drunter.
Mit der Betonung der persönlichen Attraktivität hatte es Ihre Arbeitskollegenschaft im Theater da besser. Vor dem Auftritt auf der Bühne wurde das Körperäußere der Darsteller entsprechend der Rolle, die sie spielten, langwierig, kunstvoll angepasst. Ja, sie wurden verschönert. Manche konnten sich, wenn es die Rolle hergab, über einige Stunden wieder jung fühlen, die Männer vielleicht gedanklich als Don Juan in sinnlicher Leidenschaft. Luise Mehnert konnte diese Vorzüge nicht genießen. Sie steckte in ihrem Holzkasten, äußerlich nicht hergerichtet, nicht verjüngt, nicht faltengeglättet. Aber ebenso in permanenter Anspannung. Sie, die Flüsterin, die Einbläserin sprach die Rollen flüsternd mit. Viele Rollentexte kannte sie auswendig. Nicht nur die Wörter, die Sätze hatte sie verinnerlicht. Auch die Gestik, die Mimik, die Bewegungen, den körperlichen Ausdruck beherrschte sie. Zuhause vor dem Spiegel verkörperte sie für sich allein die Figuren. Im Allgemeinen war sie im Schauspielhaus eingesetzt, sie hatte aber auch Aufgaben im Theater der Jungen Generation. Unweit neben dem Neubaugebiet wohnte ihr Schauspielkollege Kasper , wie sein Scherzname im Wohngebiet war, weil er oft den Kasper spielte. Manchmal kam er zu einem Schälschen Heesen vorbei. Sie reichte noch frische Buttersemmeln mit Pflaumenmus. Als Abschluss des Besuchs bekam er einen selbstgemachten Erzgebirgschen Bitter. Er bat sie häufig, kleine Rollen vertretungsweise zu übernehmen. Ihre sonst hochgesteckten Haare trug sie dann als Pferdeschwanz oder auch lang, je nach Rolle.
Schon als Kind hatte sie den Wunsch, später Schauspielerin zu werden. Aber ihr Stiefvater drängte darauf, dass sie einen soliden Beruf ergreifen sollte. Sie lernte Buchhändlerin. So war sie mit dem geschriebenen Wort verbunden. Aus dem Studium wurde nichts. Später wechselte sie zum Theater. Das gesprochene Wort entsprach eher ihren Intentionen. Ja, das Wort. Viele, viele Male hatte sie Faust in seinem Studierzimmer sagen hören und flüsternd mitgesprochen: Im Anfang war das Wort! … Mir hilft der Geist. Auf einmal seh‘ ich Rat … Im Anfang war die Tat!
Frau Mehnert beherrschte fließend zwei Sprachen – Hochdeutsch und Sächsisch. Im Allgemeinen soufflierte sie wohlartikuliert in der Hochsprache, ebenso wenn sie mit ihrer Kollegenschaft oder anderen Gebildeten kommunizierte. Sie redete in der gesprochenen Schriftsprache, wie die Österreicher sagten. Sie blieb beim Sie . Wie es üblich war, sprach sie die Schauspieler einfach mit dem Familiennamen an. Mit ihrem Wohnungsnachbarn, Herrn Zietschmann, unterhielt sie sich oft sächsisch. Auch er war Rentenempfänger. Häufig saßen sie in der warmen Jahreszeit gemeinsam zur Abendzeit auf der Bank neben dem Hauseingang, um das Geschehen im Freien verfolgen zu können.
Die letzten Sonnenstrahlen des Altweibersommers fielen an diesem Tag auf Luise Mehnerts Fenster, bevor die Sonne hinter dem gegenüberliegenden Häuserblock verschwand. Dieser Südteil Dresdens, Zschertnitz, historisches Schlachtfeld in den Befreiungskriegen 1813, auf dem General Moreau schwer verletzt wurde und wenige Tage danach verstarb, wurde täglich lange von der Sonne beschienen.
Sie ging ins Freie und setzte sich am späten Nachmittag auf die Hausbank . Kurze Zeit später öffnete sich die Haustür.
„Liebe Frau Mehnert, scheen, dass se noch hier sinn. Ich brauch och noch ä paar Sonnenstraaln. Ich komm mit zu Ihnen“, sagte der herauskommende Zietschmann.
„Zietschmann, ich habe grad im Trockenraum meene Wäsche uffgehängt.“
Sie hängte jedes Wäschestück korrekt gestrafft auf und klammerte es an den Ecken fest.
„Sie och?“
„Was, das ist Ihre Wäsche, die so lieblos über der Leine bammelt, unförmig, wie ein nasser Sack. Nisch mal festgeklammert. So braucht die ja ewig zum Trocknen und sie blockiert so länger die Leinen. War schon knapp.“
Zietschmann mit seinen strubbligen graumelierten brünetten Haaren schlug die Augen leicht nach unten. Er sagte nichts weiter. An diesem Tag war er noch nicht rasiert. Sein blaues, leicht verwaschenes T-Shirt fiel lässig über seine graue Jogginghose.
„Herr Zietschmann, ich habe eine kleine Schokotorte gekauft. Die hol‘ ich jetzt.“
Sie ging wieder in ihre Wohnung und kam nach einiger Zeit mit einem Tablett, auf dem Teekanne, Gläser, Teller, Gabeln und Torte standen, zurück.
„Jetzt machn wir five-o‘clock-tea.”
„Simbolisch meen Se das.”
„Nun, in praxi wern wir niemals auf der King’s Road oder der Oxford Street in London Tee trinken könn‘.“
Luise Mehnert goss Tee in die Gläser und packte die Torte aus. Sie schnuppert an der Torte. „Duftet gut – nur gute Butter – bestimmt Landbutter. Nun geht’s ans Teilen.“
„Und wie teilen wr?“
„Wies sich gehört, wir teilen jetzt brüderlich.“
Sie nahm das Messer in die Hand und setzte zum Schneiden an.
„Nee, Frau Mehnert, nicht brüderlich . Se sehn jedn Taag, was es heest – mit dem großen roten Bruder im Osten brüderlich zu teilen – dr Bruder griegt den großen Teil un wir glotzen mit dem kleenen Rest in dn Mond. Also scheen halbe-halbe teilen.“
Zietschmann und Mehnert waren damals am selben Tag in der Platte eingezogen. Der Dorfkern von Zschertnitz mit seinen historischen Bauernhäusern wurde für das Neubaugebiet geopfert. Eine Neubauwohnung in Zschertnitz zu erhalten, wurde zu dieser Zeit als Geschenk angesehen. Zwar war es ein anderes Wohnen als in einer Altbauwohnung. Verspielte Fassaden, individuelle Vorgärten, kurzer Weg zur Kirche gehörten nicht zum neuen Wohnen in einer auf Gleichheit beruhenden Gesellschaft. Altbau stand für Wohnen in einem altbackenen Gesellschaftsmodell.
Wenn man in der Platte eine Wohnung erhielt, fühlte man sich erst mal auf der Sonnenseite mit neuem Lebensgefühl. Die Platte war Sinnbild für die Wohnform in Ostdeutschland, uniformiert, vereinheitlicht. Alle wohnten auf gleichem Niveau. Hier gab es nach damaligen Begriffen Komfort – stets warmes Wasser oder Durchlauferhitzer und eine warme Wohnung mit Badewanne. Die Zeit, in der man sich im frostigen Winter unter einem Gebirge aus Daunendecken eine warme Höhle schaffen musste, um in grenzenlose Träume fallen zu können, war nun vorbei. Die Wohnungen waren permanent geheizt, so stark, dass die Fenster geöffnet werden mussten, weil die Heizungen ohne Abstellventile montiert wurden. Die Satirezeitschrift Eulenspiegel veröffentlichte Fotos, auf denen Neubauwohnungen häuserweise mit offenen Fenstern, sowohl in Rostock als auch in Dresden zu sehen waren.
Schule und Kindergarten waren im Neubaugebiet gleich um die Ecke. Unweit eine Kaufhalle, auf deren Gelände früher das berühmteste Ballhaus Dresdens Paradiesgarten stand. Es wurde in den Kriegstagen zerstört.
Das Wohnen in einer Plattenbausiedlung aus zusammengeschraubten Modulen grauen Waschbetons unterschied sich von der als überholt geltenden bürgerlichen Wohnkultur auf dem Weißen Hirsch. Die Platte war industriell errichtet und standardisiert. Die Häuser sahen fast überall gleich aus, eben wie Zigarrenkisten. Die Wohnungen gleichen Typs waren nahezu überall gleichgroß mit gleichem Grundriss, eben gleichförmig. Viel Fantasie zum Einrichten wurde nicht gebraucht. Die Möbel an den richtigen Fleck stellen, das konnte jeder. Fernseher, Wohnzimmerregale und Kleinmöbel standen fast überall an der gleichen Stelle, eben einheitlich, konform. Die aus leichtem Kunststoff gefertigten Zimmertüren wurden von den Leuten als Papptüren bezeichnet. In Zschertnitz waren die aus Pressstoff mit innenliegenden Papierwaben gefertigten Wohnungstüren aufgrund schlechter Lagerung verzogen. So hatte jede Wohnungstür an der unteren linken Ecke einen Schlitz zum Gewände hin. Durch diese Klinse gelangten die unterschiedlichen Küchengerüche ins Treppenhaus. Sie vermischten sich zu einem Einheitsgeruch, der von manchen als Gestank wahrgenommen wurde, bei anderen aber Assoziationen zu opulenten lukullischen Genüssen hervorrief. Durch den Spalt drang aber auch akustischer Ballast. Nachmittags hörte man die Klänge der Puhdys, von der Gruppe Karat oder die Musik westlicher Sender, abends Lieder von Karel Gott oder Veronika Fischer. An der Wohnungstür Vorbeigehende bekamen die Heftigkeit von Streitgesprächen in der Wohnung ebenso mit wie abends den Lichtschein durch den Spalt, der die Anwesenheit der Bewohner signalisierte.
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