Luise Mehnert und Herr Zietschmann, auf der Bank im Freien sitzend, sahen erwartungsvoll Thalheim entgegen, der leicht verschwitzt vom Rad stieg und es zum Hauseingang über die zwei flachen Stufen schob. Familie Thalheim - die Lehrerin Sonja, der Pharmazeut Dr. Ulrich Thalheim und Katja, Schülerin der neunten Klasse - wohnte in der dritten Etage.
Ulrich Thalheim war von stattlich- sportlicher Gestalt. Er achtete sehr auf sein Normgewicht. Aus seinem Blick war Loyalität und leicht auch eine Treuherzigkeit zu erkennen. Er trug legere Kleidung. Sein dunkles, kurzes Haar zeigte an den Schläfen einen leichten Grauschimmer.
Sie begrüßten sich. Worüber diskutiert werde, wollte Thalheim wissen.
„Ach Thalheim, über die Weltgeschichte, die ist im Tal der Ahnungslosen immer interessant.“
„Ja, iewer de Wäsche im Geller, die nachm Gombass ausgerischt wärn soll“, sagte Zietschmann.
Luise Mehnert, im dunklen Schneiderrock und heller Bluse, hatte die Haare hochgesteckt. Sonntags schmückte sie diese mit Accessoires. Sie unterschied in ihrer Anrede. Im Theater war es üblich, sich nur mit dem Nachnamen anzusprechen. So hielt sie es auch im Alltag. Die Akademiker, die Höhergebildeten, die Gewichtigen fielen ebenso in diese Kategorie.
Thalheim lehnte sein Rad an die Wand und setzte sich ebenfalls auf die Bank.
„Thalheim über die Welt erfahren wir hier in unserem Elbtal kaum etwas, aber über die Anglermeisterschaften, die in der Lausitz erfolgreich beendet wurden, so in den Klassen Fliege, Fünfkampf und Gewicht. Da hab´ ich gleich mal bei unserer lieben Lene, wie die Leibzcher sagen, eben bei unserer Mundartdichterin, nachgeschaut.“
„Ich weiß, wer Lene Voigt ist. Was schreibt sie denn?“
Luise Mehnert fühlte sich in ihrem Element, es machte sie immer glücklich, zu jedem passenden oder unpassenden Zeitpunkt, Verse zitieren zu können.
„Ich les´ mal vor:
Dr Fischer
Mit dr Angel in dr Hand
Saß ä Mann am Uferrand,
Schtarrte uff de Fluten hin,
Nach ä Garbfen schtand sei Sinn.
Leider wollte geener gomm,
Alle warnse fortgeschwomm.“
Symbolisch gaben die anderen auf der Bank Ruhenden Beifall.
Zietschmann stand auf und sagte, er werde erschtmal fer jeden ä Laagerbier holn.“
Er kam wieder, sie öffneten drei Flaschen und prosteten sich zu.
Frau Mehnert sei eingefallen, dass in dieser Woche der erste Todestag von Traute Richter sei. Die Richter sei als Frau Charlotte von Stein im Gespräch mit dem abwesenden Herrn von Goethe fulminant, einfach überwältigend gewesen. Über dreihundert Mal habe sie diese Rolle gespielt. – Die Publikumslieblinge, sie habe sie alle gekannt. Sie saß mit ihnen in der Kantine und habe auf der Bühne in kritischen Situationen geholfen.
Sie drückte ihren Rücken durch und setzte sich kerzengerade, quasi Hochachtung demonstrierend. In Hochdeutsch sagte sie, dass in Dresden schon große Schauspieler spielten. Joachim Zschocke als Richard der Dritte und auch Tartuff. Der Horst Schulze, nun in Berlin, sei als Mephisto unübertroffen gewesen. Schulze sei der Publikumsliebling der Dresdner gewesen, wirklich umjubelt. Den Bel Ami habe er über dreihundert Mal gespielt, als Papageno sei er meisterhaft gewesen. Genauso sei die Antonia Dietrich von den Dresdnern abgöttisch verehrt worden, als Frau Jenny Treibel große Spitze.
Ja und den Hoppe müsse man auch mit nennen, warf Thalheim ein.
Rolf Hoppe sei seinen Dresdnern treu geblieben. Was habe der alles gespielt – König Lear, Dorfrichter Adam im Zerbrochenen Krug, den Klosterbruder in Nathan der Weise. Ja, viele Rollen jahrzehntelang.
Aber Frau Mehnert habe damals uff der Biene in ihrer Kiste gehoggd – sie sei nisch umjubelt wurdn, sagte Zietschmann.
Sie habe aber mit den Umjubelten gefühlt, meinte sie.
Und der Marita Böhme als Eliza Doolittle in My fair Lady oder in Bel Ami zuzuschauen, sei immer ein Genuss gewesen, warf Thalheim ein.
Un dr Peter Herden sei och eene Größe. Iewer vierhundert Mal habe dr dn Professor Higgins gespielt, sagte Zietschmann.
Aus dem Fenster der dritten Etage rief Sonja Thalheim:
„Hallo Uli, du bist ja schon da. Kommst du auch zu mir. Wir haben Besuch. Morgenroths sind auch hier.“
Dr. Ulrich Thalheim arbeitete im Elbpharmwerk in Dresden. Er war für eine Abteilung in der Entwicklung verantwortlich. Den Arbeitsweg legte er meist, besonders bei schönem Wetter in der warmen Jahreszeit, mit dem Rad zurück.
Er räumte das Rad in den Keller und eilte die Treppe hinauf.
In der Wohnung stellten Morgenroths, die eine Etage unter Thalheims wohnten, ihren Besuch vor, Familie R. aus München. Herr R. arbeite in der Kulturbranche und Frau R. sei Lehrerin. Familie R. wolle gern mit einer waschechten ostdeutschen Familie einen Abend verbringen und ins Gespräch – so quasi zwischen West und Ost – kommen.
Sonja als Lehrerin fand schnell zu Frau R. einen Draht. Es sei ja selten, dass sie Westdeutsche zu Besuch habe.
Ulrich legte eine Platte mit Dixieland- und Jazz-Melodien auf. Down By The Riverside mit Chris Barber war zu hören. Dann eilte er in die Küche und komplettierte die Abendmahlzeit. Sonja hatte bereits mehreres vorbereitet. Er schämte sich etwas, noch einige Zeit vor dem Haus geplauscht zu haben. Er bereitete Gurkensalat zu und buk Baguette im Ofen auf. Aus dem Küchenradio wurden Kurzmeldungen gebracht: In Westberlin habe es Krawalle gegeben. Demonstanten auf den Straßen hätten ihren Protest gegen die beginnende Weltbankkonferenz erhoben. Sie seien vor den Eingang der Riesenhalle gezogen, wo die Konferenz stattfand. Schaufensterscheiben seien in der Innenstadt zertrümmert worden. Es wurde auch gebracht, dass mehrere Hundert von finanzkräftigen Währungsexperten gegen stabile Währung in Ostberliner Nobelhotels übernachtet hätten. In Luxuslimousinen seien sie abgeholt und reibungslos unter Bewachung der Staatssicherheit über die Grenze gebracht worden. Im Ostteil hätten junge Leute unter dem Schutz der ostdeutschen Kirche gegen Ausbeutung der dritten Welt durch das Finanzkapital protestiert. Sie seien von den Ordnungskräften ermahnt worden, Ruhe und Ordnung einzuhalten.
Ulrich überlegte, welch ein Gegensatz. Der sich sozialistisch nennende Staat beschirme das Finanzkapital und Junge Christen verfechten sozialistische Ideale.
Während des Abendessens kamen sie auf das jährliche Dixieland-Festival in Dresden zu sprechen. Bands aus vielen Ländern seien immer vertreten. Man spüre dabei, wie der Hauch aus der weiten offenen Welt versprüht werde.
Herr R. als Kenner des Kulturlebens hob das dichte Netz von Theaterbühnen im Osten hervor. Die Preise seien niedrig. Er habe den Eindruck, dass die Leute für Kultur aufgeschlossen seien. Herr R. sagte, im Westen dominiere der Konsum. Eben auch Kulturkonsum. Man konsumiere Theater, Film, Konzerte. Auch der zwischenmenschliche Dialog laufe sehr häufig über den Konsum – zum Beispiel in Kneipen –viel trinken, gut essen – das sei für viele Kultur. Er staune über die enge menschliche Verbundenheit der Menschen im Osten. Die Leute seien ruhiger, reagierten weniger hektisch.
Den Westlern gehe es oft so, dass sie mit Genussfreude an der engen Zusammengehörigkeit teilnähmen, ohne die Schattenseite, die vielen Erschwernisse spüren zu müssen, sagte Gundula Morgenroth.
Aber die Individualität der Ostdeutschen werde beschnitten, alles liefe auf Kollektivität hinaus, warf Frau R. ein. Schon bei der Geburt eines Kindes werde in den Krankenhäusern das Neugeborene von der Mutter getrennt und isoliert bewacht. Das habe doch ernste Auswirkungen. Wie solle sich bei den Kleinen eine Vertrauenswelt entwickeln?
Читать дальше