1 ...6 7 8 10 11 12 ...16 Maggie fing Graces Blick auf. „Sind Sie bereit für die Höhle des Löwen?“
„Ja, und ich werde Ihnen beweisen, dass ich ein guter Dompteur bin.“
Mrs. Lynch hob die rechte Augenbraue. „Sie gefallen mir immer besser. Aber wenn Sie in diesem Zirkus mithalten wollen, müssen Sie knallhart sein. Ich wiederhole das nur, damit Ihnen klar ist, worauf Sie sich einlassen. Das hier ist nämlich nicht das beschauliche Cornwall, wo sich Fuchs und Henne gute Nacht sagen. In diesem Unternehmen müssen Sie ständig hinter sich blicken, damit Sie keinen Feind übersehen. Unter ihren Stuhl schauen, der laufend angesägt werden wird und vor allem sollten Sie nach einer Devise leben: In der Citizen-Welt regiert ausschließlich Geld, nicht das Herz.“
Eine harte Aussage, die Maggie noch beschäftigte, nachdem sie sich längst in ihrem Pensionszimmer befand. War sie tatsächlich dazu gemacht, die Ellenbogen zu benutzen? Sich gegen alle Widerstände zu behaupten und Gefühle außen vor zu lassen?
Zweifel, die sich verstärkten, als sie einen Anruf von Minnie erhielt. Finleys Tante setzte sie über Randalls Tod in Kenntnis. Maggie sank weinend auf das Bett, nachdem sie aufgelegt hatten, und dachte an das letzte Gespräch mit ihm. Dieser Mann war ein außergewöhnlicher Mensch gewesen, dessen Tod sie tief traf. Dabei hatte sie ihn kaum gekannt, trotzdem fühlte es sich anders an. Und wie schlimm musste sein Tod für Annie sein. Es wäre schön gewesen, sie zu kennen. Ob sie ihr schreiben sollte?
Maggie blickte aus dem Fenster und hatte plötzlich St. Agnes vor ihrem geistigen Auge. Die Bank vor Randalls Geschäft. Alecs und Harrys Grab. Die Klippen, den rauschenden Ozean und Kraniche, die ihre Kreise am Himmel zogen …
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Dublins Brücken spiegelten sich in der ruhig dahinfließenden Liffey, die auch die gepflegten Häuserreihen auf ihrer Oberfläche tanzen ließ. Besonders im Merrion Square fanden sich viele entzückende Gebäude im Georgianischen Stil mit ihren weiß verputzten Ornamenten und den Backsteinen. Über teils feudale Eingangsportale spannten sich Ziergiebel und viele verfügten über romantische Freitreppen.
Gedankenvoll schlenderte Maggie an der Nationalgalerie vorbei, stand ehrfürchtig vor der Börse Irish Stock Exchange und fuhr mit der Stadtbahn in die Nähe von Temple Bar . Das kulturelle Viertel am Südufer der Liffey platzte beinahe aus allen Nähten, denn die ganze Welt schien an diesem Wochenende dasselbe Ziel zu haben, oder es ging allen ähnlich wie ihr: Sie mussten sich beschäftigen, um auf andere Gedanken zu kommen. Wobei Dublin durchaus sehenswert war.
Am besten gefielen Maggie die engen Gassen mit den Kopfsteinpflastern, die den Straßenzügen ein mittelalterliches Flair einhauchten. Hochmodern wirkte dagegen der Spire , eine über hundertzwanzig Meter lange Edelstahl-Säule, die nach oben hin schmaler wurde und von vielen scherzhalber als der größte Zahnstocher der Welt bezeichnet wurde.
In der Nähe einiger Kaufhäuser spielten Musiker irische Folkmusik, als Maggie in den Doppeldeckerbus stieg, den sie auch am Sonntag als Verkehrsmittel nutzte. Bis zum Abend hatte sie die legendäre Half Penny Bridge gesehen, das imposante Dublin Castle in der Altstadt, das klassizistische Costume House in den Dublin Docklands, die Molly Malone Statue und das Famine Monument . Berührende Bronzestatuen, die verhärmt und ausgemergelt an Irlands große Hungersnot erinnern sollten.
Nach all den Eindrücken wollte Maggie das erlebnisreiche Wochenende mit einem Spaziergang am Hafen ausklingen lassen. Hier herrschte wohltuende Ruhe, obwohl sie einen ähnlichen Trubel wie in den Straßen erwartet hatte. Aber sie stand beinahe alleine am Quay und schlenderte an der Uferpromenade entlang. Begleitet vom Meer, das mit dem blassrosa Horizont verschmolz. Der Geruch der salzigen See umfing sie wie eine zärtliche Umarmung aus der Heimat. Kein Haus, nichts versperrte die Sicht auf diese unendliche Weite, die ihr Herz erfüllte. Die es durchatmen ließ und an den Ketten rüttelte, die ihre Brust umschlossen. Aber noch war Maggie nicht bereit, sich von der Vergangenheit zu lösen. Ihr Gesicht dem Neuen zuzuwenden. Die Zukunft machte ihr mehr Angst, als das Altvertraute. Trotz der Qualen. Dennoch, sie musste eine Entscheidung treffen.
Kurzerhand setzte sich Maggie auf die Steinmauer und zwang sich, an die Citizen-Bank zu denken. An Grace und ihre Warnung. Nach wie vor fühlte sie sich hin und her gerissen. Im Grunde hatte diese Iris vielleicht das richtige Gespür gehabt, indem sie ihr unmissverständlich zu verstehen gab, nicht in diese Welt zu passen. In eine Welt, die düster vor Maggie lag, und als teile die Natur ihre Gedanken, verdunkelte sich auch der Horizont allmählich. Mit ihm der Ozean, als wäre schwarze Tinte ausgelaufen. Sehnsüchtig schaute Maggie in den Himmel. Einige Sterne funkelten bereits und unaufhaltsam verwandelte sich die Stadt in ein Lichtermeer, das die See glitzern ließ wie schillernden Tüllstoff.
Ob der Spiegel von Lyonesse bis hierher leuchten konnte? Nein, den Sagen und Legenden war sie entwachsen, diese Schuhe passten ihr nicht mehr. Es gab keine Wunder. Nur die harte Realität und bittere Gründe, welche sie aus Redruth fortgetrieben hatten. Unter anderem Hanks Vorwürfe. Er und Polly waren sicher froh, dass sie Cornwall den Rücken kehrte. Auch wenn sie die Heimat mit jeder Stunde mehr vermisste.
Wäre alles anders gekommen, wenn sie Alec nicht gekannt hätte?
Maggie erschrak über diesen Gedanken, der plötzlich in ihr war. Doch niemand hörte ihn, um sie zu verurteilen, und da diese Tür geöffnet war, ließ sie sich nicht mehr schließen. Darum fragte sie sich im nächsten Moment, ob sie sich unter diesen Voraussetzungen auf Finley eingelassen hätte. Ihr Blick schweifte zu den Lichtern ab, mit denen die Strömung spielte. „Ja, das hätte ich“, wisperte sie und träumte sich zum Cottage zurück. In Finleys Arme, und plötzlich wusste sie, was sie tun wollte. Was stärker wog, als alles andere. Schon einmal hatte sie eine große Liebe verloren, das sollte ihr kein weiteres Mal passieren. Alec würde es verstehen. Nein, das hatte er längst getan. Darum durfte sie nicht den Fehler begehen und sich selbst um dieses Glück bringen. Ein Glück, dem sie aufgrund ihres Kummers, den vielen Anfeindungen und Intrigen nicht getraut hatte. Insbesondere hatte die Angst überwogen, erneut alleine zurückzubleiben.
Doch in diesen Minuten vor dem Cottage hatte Finley ihr sein Herz zu Füßen gelegt. Aufrichtigkeit hatte in seinen Augen gestanden. Sogar Verzweiflung. Mit derselben war er schließlich gegangen. Weil sie verlernt hatte, anderen zu vertrauen. Mitunter hilft uns nur die Betrachtung aus großer Distanz, um wieder klar sehen zu können und Ängste zu überwinden .
„Danke, Randall“, sagte Maggie in die Stille hinein und atmete tief durch. Mit dem Gefühl, als wären die Ketten endlich gerissen, und erfüllt von der Erkenntnis, dass sie keine Chance in der Citizen-Bank wollte, sondern eine von Finley. Weil sie wusste, dass sie es irgendwann zutiefst bereuen würde.
Aufgeregt holte Maggie das Handy aus der Innentasche ihrer Jeansjacke und schaltete es ein. Es dauerte, bis sich dank der mobilen Daten die Google-Maske geöffnet hatte. Ungeduldig tippte sie Finleys Namen sowie den Zusatz Berlin ein. Da! Ehe sie es sich anders überlegen konnte, aktivierte sie die Festnetznummer. Ein Handy war nicht eingetragen.
Als es läutete, klopfte Maggies Herz wie verrückt. Bis sie eine dunkle Frauenstimme vernahm, wohingegen ihre eigene versagte. Wer war die Unbekannte?
„ Hallo? Wer ist denn da?“ , wiederholte die Frau, diesmal auf Englisch.
Maggie brachte weiterhin kein Wort heraus. Andererseits war nicht gesagt, dass es sich tatsächlich um Finleys Anschluss handelte, obwohl sie Zweifel hegte, dass es mehrere Finley McGarrets in Berlin gab. Dennoch nahm sie all ihren Mut zusammen. „Entschuldigung, ich bin auf der Suche nach Doktor Finley McGarret.“
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