Und dass in den letzten Wochen die hiesige Bevölkerung zwar ein wenig zähneknirschend, aber letztlich ohne lautes Murren und größeres Widerstreben die empfohlenen Verhaltensweisen praktiziert hat – soziale Distanz, Separieren im eigenen Zuhause, Verlegung der Berufstätigkeit als Homeoffice Working in die eigene Küche, allgemeiner Verzicht auf körperliche Kontakte zu den Mitmenschen –, diese Disziplin sollten wir nicht einfach unter der Rubrik „Kadavergehorsam“ einordnen und die Menschen, die sich an die genannten und alle weiteren seuchenpolitischen Maßnahmen gehalten haben, als eine des Widerstands nicht fähige, dumpfe Untertanenherde verächtlich machen. Sondern wir sollten das anerkennend als die akute Gefahr zumindest vorerst ausbremsendes, verantwortungsbewusstes Handeln in solidarischer Absicht willkommen heißen.
Wie erfolgreich und zuverlässig die vorsichtige, stufenweise die Sicherheitsvorkehrungen verstärkende Anpassung unserer Dialysestation an die erst immer näher rückende, schließlich in der Region tatsächlich eintreffende Corona-Pandemie uns Patienten gleichsam wie auf einem Seenotrettungsboot durch gischtschäumend strudelnde Gewässer sturmgepeitschter See hindurchlaviert hat, wurde uns dieser Tage frühmorgens schlagartig klar. Nämlich als durch die Tür unseres Wartefoyers als Letzte eine fröhlich hüpfende Tanzmaus hereinschneite, uns ein hellstimmiges „Ich bin wieder da“ entgegenträllerte und auf die Frage, wo sie denn die letzten Wochen abgeblieben sei, begeistert erklärte: „Ich hatte Corona, und jetzt bin ich genesen und ich bin immun! Hurra.“ Sogleich beugte sie sich zu Herrn Lustig hinab, der wie immer auf dem äußersten rechten der vier Stühle des Foyers saß, und schrie ihm ins (fast) taube linke Ohr: „Ich hatte Corona, und jetzt bin ich immun.“ Und schon stand sie wieder, griff sich Mister Hongkong und drehte mit ihm ein paar Walzerrunden, während sie gemeinsam lauthals und euphorisch wie in Vor-Corona-Zeiten die Udo-Jürgens-Liedzeile „ Danke für ein paar schöne Stunden, Danke, la la la la leh!“ sangen.
Mit anderen Worten: Stimmung! Im Corona-Zirkus. Panem et circenses. Basta mit Pandemie, Schluss mit Trübsal blasen. Wir leben noch! Oder, wie es auf Capri vor Jahren als Wandinschrift auf einer Gartenmauer zu lesen war: Basta con gli problemi – l’amore e la musica!
(30. April 2020)
Ave Covid,morituri te salutant (12)
Merkwürdige Gedanken gehen einem durch den Kopf, wenn man des Nachts bei der wiederholten Lektüre von Theweleits Männerphantasien seine Überlegungen nachzuvollziehen versucht, die er zu den Metaphern von Flut, Wogen und Wellen anstellt, die Menschen, Länder, ja ganze Kontinente zu überschwemmen drohen, jedenfalls in den Erzählungen ehemaliger Freikorpssoldaten über ihre mörderischen Kriegszüge nach dem Ersten Weltkrieg. Von der etwa zur gleichen Zeit weltweit tobenden „spanischen“ Grippepandemie ist dabei keine Rede.
Die Angst, überflutet zu werden, Ohnmachtsgefühle angesichts überwältigender Entwicklungen, denen gegenüber man sich hilflos fühlt, lassen angestaute Emotionen sich in Aggressionsschüben ergießen. Sie enden in mörderischen Aktionen, die von diesen Veteranen des Ersten Weltkrieges nach den Jahren lähmenden Entsetzens, des Wartens auf den Tod während der Dauerbombardements in den Schützengräben wie Befreiungsschläge empfunden werden. Endlich die Möglichkeit, einem konkreten Feind zu zeigen, dass man ein Mann ist, und diesen Feind dann brutal und konsequent zu töten, zu vernichten, selbst wenn, oder gerade wenn es eine „rote Krankenschwester“ oder ein proletarisches, kommunistisches „Flintenweib“ ist.
Handelt es sich um eine Regression? Sind die Amokläufe ehemaliger Kriegsteilnehmer irrationale Rückfälle in frühkindliche, ungebremste Aggressionsabfuhr, oder wütet da der von Sigmund Freud erfundene Todestrieb, gleichsam wie eine naturgegebene Allgewalt, die zornige, massenmörderische Strafe eines rasenden Kriegsgottes, der vom Morden und Weitermorden auch nach Kriegsende nicht lassen kann?
Irrational erscheinende, dem gewöhnlichen Verstand undurchschaubar, letztlich unerklärlich bleibende allgemeine Gefahrenlagen und Katastrophen wie Erdbeben, Vulkanausbrüche, Tsunamis, Dürren, Orkane, Kriege Heuschreckenschwärme, Pest und Cholera, Börsencrashs, Massenarbeitslosigkeit, Hungersnöte, Bürgerkriege – all diese apokalyptischen Reiter lösen hysterische Emotionsströme aus, die nur schwer zu bewältigen sind, Schockwellen für die gesellschaftliche, kollektive Seele.
Wellen, die sich heben und wieder senken und erneut ansteigen, sinus- oder cosinusförmig. Mal ist man auf der Höhe einer Welle, ihrem (mutmaßlichen) „Peak“, um dann wieder in ein Wellental hinabzurauschen, in dem sich Erleichterung breitmacht, ein Aufatmen spürbar wird. Bis dann die Flut erneut ein wenig anzusteigen beginnt und die Ängste wiederkehren, vor der zweiten Welle, die von der vorauseilenden Panik größer und höher und gewaltiger vermutet und ausgemalt wird als die vorherigen, bereits durchlebten Wellen.
Wenn etwas Neues, Unerwartetes passiert, von dem eine Gefahr ausgeht oder ausgehen könnte, gleicht das Ergebnis der Wahrnehmung im öffentlichen Bewusstsein – Empörung, Neugier, Angst und bei ansteigender Gefahr Hysterie und Panik – in der Verlaufskurve den Wellen, die ein in einen Teich hineingeworfener Stein auslöst. Erst bilden sich um das Ereignis herum wie um die Stelle, an der der Stein ins Wasser eingetaucht ist, kreisförmig große Wellen, denen viele kleine und kleinere folgen, um schließlich am Ufer (des Meinungssees) als leichtes Wasserklatschen still und leise auszuplätschern. Überlebte Katastrophe, Kurznachricht auf Seite fünf, Schnee von gestern. So der übliche, „normale“ Verlauf aufsehenerregender Ereignisse und ihrer Rezeption in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit, gespiegelt und/oder gesteigert in den Nachrichten und Kommentaren der als Emotionsverstärker wirkenden Medien.
Wie bei Erdbeben, plötzlich und zunächst unerklärlich ausgelöst von den Spannungen zwischen den Kontinentalplatten, spricht man neuerdings auch bei den unerklärt bleibenden Ausbrüchen viraler Pandemien von Epizentren, von denen die Ansteckungswellen ausgehen.
Neben dem „Ur“-Epizentrum der Corona-Pandemie, das allgemein in Wuhan im fernen China vermutet wird, geht man in Europa bei der Wahl der sogenannten „Ur“-Hotspots von ein paar zentralen Großereignissen aus, bei denen eine große Zahl von Menschen sich initial angesteckt haben soll. Auf eine simplifizierte Formel gebracht, lautet die offizielle europäische Hotspot-Legende: Eff-Eff-A-Quadrat. Ausgeschrieben Fasching, Fußball, Après-Ski respektive Abendmahl.
Eine Karnevalssitzung in Nordrhein-Westfalen, das Fußballspiel zwischen dem norditalienischen Atalanta Bergamo und dem spanischen Gegner aus Valencia, die Après-Ski-Partys im Wintersportort Ischgl, ein einwöchiges Seminar gläubiger Christen mit Gesang und heiliger Kommunion im Südelsass, und um es streng katholisch auszudrücken, oder – was für manche auf Dasselbe hinausläuft – orthodox karnevalistisch: Am Aschermittwoch war alles vorbei.
(5. Mai 2020)
Mein Optimismus-Poster
Zwischenspiel
Ob Anstand
oder Abstand
Wichtiger sind
Kommt ganz auf
Die Umstände an.
Im Zweifelsfall entscheidet
Je nach Zustand oder Beistand
Das zuständige Standgericht.
Auf jeden Fall gilt:
Standhaft bleiben.
Schöne Grüße
Heipe
(6. Mai 2020)
Ave Covid, morituri te salutant (13)
Das wöchentliche Nachrichtenblättchen der Stadt Wadern informiert: Gastronomie wieder geöffnet.
Mit andern Worten: Die erste Welle ist im Abschwung. Vor der zweiten Welle dagegen wird im Fernsehen unverdrossen gewarnt, im Brustton der eigenen Überzeugung prophezeien alle hochoffiziellen Regierungs- und sonst wie wichtigen Sprecher in Talkshow eins bis unendlich, sie komme bestimmt, die zweite Welle. Da sind sie sich einig, alle Glaskugelbeobachter, unisono. Keine Atempause, Panik wird gemacht, es geht voran.
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