Gut, dass es trotz allem aufgeregtem Gerede auch Stimmen von Besonneneren gibt, beispielsweise die der Professoren Schrappe, Knieps, Pfaff, Püschel et alii, die sich mit ihrem Thesenpapier 2.0 zu Wort melden. Schwierig, ihre 72-seitige Stellungnahme in zwei Sätzen zusammenzufassen, aber so viel sei angemerkt: unaufgeregt, sachlich, und überzeugend formuliert. Kurzes Resümee: Panik unangebracht, weiterer Verlauf vermutlich emergent (zufällig an nicht voraussagbaren Orten auftretend) – und dann dort effektiv reagieren, möglichst mit Taskforces, auf Ort und Institution oder Milieu abgestimmt. Risikogruppen besonders in Schutz nehmen, jedoch ohne Sanktionen und auf freiwilliger Basis. Paradoxe Gegenreaktionen durch negatives Framing nach Möglichkeit vermeiden.
Nu hab’ ich das Unmögliche (in zwei Sätzen) doch versucht. Konnte ja nur schiefgehen. Immerhin fielen zwei der neuen Vokabeln: Emergenz und Framing. Mir fehlt ganz entschieden das nötige Wording, um meine kalte Wut gegenüber diesen Modeanglizismen (oder -latinismen) in ein adäquates Narrativ zu fassen. Laut Medien-Wiki: Emergenz (lat. emergere = auftauchen) ist eine Eigenschaft auf der Makroebene eines Systems, die … Und laut Google: Framing ist der Prozess einer Einbettung von Ereignissen und Themen in Deutungsraster … Noch mal Google: Narrativ (Sozialwissenschaften) meint eine sinnstiftende Erzählung für eine Gruppe oder Kultur … Ob das Sinn macht? Wie macht man Sinn?
Irgendwo (kann sein, bei Theweleit) hab’ ich gelesen: Achtung, Narr aktiv!
Und wenn wir schon mal beim Kalauern sind:
Virologen?
Wirr? Oh! Sie logen. Na so was. Überfordert?
Nun, so ist das mit den hochkarätigen Experten. Je höher die Karate, desto ex.
Nu´ aber Schluss für heute mit dem Geschimpfe, sonst handeln wir uns selbst noch den hochaktuellen Schimpf der Verschwörungstheoreterie ein. Wollen wir nicht, ach i wo. Keine Verschwörung, nirgendwo, nur ein bisschen Gryphius: Ach, du siehst nur Eitelkeit auf Erden … Oder richtig finster:
Ach, es ist so dunkel in des Todes Kammer,
Tönt so traurig, wenn er sich bewegt,
und nun aufhebt seinen schweren Hammer
Und die Stunde schlägt.
Hatte ich mir vorgenommen als Gedicht für die mündliche Abiturprüfung. Leider wurde ich befreit.
Heute würde man unter Corona-Bedingungen vielleicht sagen: Es handelte sich um eine reine Lockerungsmaßnahme. Früher, bevor alles cool wurde, hieß es doch auch tröstend: Immer locker bleiben. Der Nebel ist bloß vorgetäuscht. Auf alle Fälle Gryphius: Ach!
(21. Mai 2020)
Ave Covid,morituri te salutant (14)
Für den heutigen Samstag, so hieß es gestern im Tivi, werden wieder in den großen Städten sogenannte Hygienedemonstrationen erwartet. Seltsam. Wird da für oder gegen Hygiene demonstriert?
„Hygiene“, laut Wikipedia, „oder Gesundheitspflege sollen Krankheiten verhüten sowie die Gesundheit erhalten und festigen.“
Das Hygienesystem unseres Dialysezentrums jedenfalls war bisher in der Corona-„Krise“ durchaus erfolgreich. Wenngleich auch bei den ersten Schritten zu Anfang der Bedrohungsphase eher zaghaft. Zunächst wurden wir gebeten, uns in der Folgezeit selbst mit von zu Hause mitgebrachten Brötchen und Getränken für das Frühstück zu versorgen, da man angesichts der Gefahrenlage darauf verzichten werde, uns nach den ersten beiden Dialysestunden mit schmackhaften Ei-Mayonnaise- oder Mozzarella-Tomaten-Sandwiches und Tee, Kaffee und/oder Mineralwasser als Frühstücksgarnitur zu verwöhnen – aus rein hygienischen Beweggründen.
Da war ich gerade von einem Wochenendtrip aus Madrid zurückgekehrt, wo ich im dortigen Dialysezentrum mit einem neuartigen pistolenähnlichen Fiebermessgerät – Messung drei Zentimeter vor der Stirn – und von der gesamten Belegschaft in Quarantänemänteln, Handschuhe und Gesichtsmasken inklusive, aber überaus freundlich empfangen wurde. Dort gab es zur Frühstückspause zwei Mini-Pepitos, schmackhafte, fingerförmige Biskuitstangen. Insgesamt schien man ausschließlich bei mir, dem aus Deutschland zugereisten Gastdialysanten, ein gewisses Ansteckungsrisiko zu vermuten, da die Lage in Madrid selbst als wenig beunruhigend eingeschätzt wurde, gerade mal vier Infizierte sollte es geben, hieß es im Fernsehen, keine Gefahr in der Millionenstadt. Anders als in Oberitalien, wo die Krankenhäuser überfüllt waren wegen der Après-Ski-Angesteckten aus Ischgl.
Unsere Vermieterin und Freundin zu Hause, selbst Endsiebzigerin, hatte sich nicht abschrecken lassen von den ersten Nachrichten über das Risikogebiet Tirol und war am selben Wochenende zu einer Wanderung mit Freundinnen dorthin aufgebrochen. Sie wolle gar nicht Ski fahren, hatte sie mir gesagt, als ich meinte, ein Problem könne es geben, wenn sie am Skilift in der Schlange mit vielen möglicherweise Angesteckten lange warten müsste. Sie wolle ja nur wandern, da gebe es keine Ansteckungsgefahr.
Vier Tage später kam sie vorzeitig zurück, und hatte dabei noch Glück, denn zwei Tage später wurde die Grenze komplett geschlossen, und sie hätte gar nicht wieder nach Deutschland einreisen können. Auf jeden Fall musste sie danach 14 Tage in Quarantäne, in der Wohnung über uns, und ich brachte ihr dreimal die Woche Brötchen vom Bäcker mit. (Was ein Glück, in den folgenden Wochen der verschärften Lockdown-Situation hat sie sich revanchiert, und jetzt bringt sie mir im Gegenzug mehrmals in der Woche ein Baguette mit.)
Genau genommen war damit für mich als mehrfach Hochgefährdeten die Corona-Gefahr in Luftlinie gerade mal drei Meter (nach oben) entfernt, aber nach 14 Tagen war die Sache vorbei, Entwarnung. Derweil hatte sich das zuvor als harmlos eingeschätzte Madrid zu einem Hochrisikoherd entwickelt. Gut, auch ich hatte da bereits die gut zwei Wochen Quarantäne, ohne es zu wissen und ohne Ansteckung, hinter mir.
Allerdings hatte mir in Madrid bereits geschwant, dass sich in dieser Stadt eine ansteckende Krankheit rasant zu einer Katastrophe entwickeln müsste, so sehr war die Atmosphäre die einer einzigen, gewaltigen Fiesta: in der Innenstadt kaum ein Stehplatz auf den Gassen und Plätzen, alles auf den Beinen, die Tapas-Bars und Restaurants alle bis auf den letzten Platz gefüllt, die Stimmung die eines permanenten Volksfestes. Die Stadt brummte, die Stimmung erinnerte mich beispielsweise an ähnliche Tage im Quartier Latin in Paris in den Sommermonaten der Jahre vor 1968 oder die Zeit in Prag 1980 oder Sommerabende später in Amsterdam, mit Musik und fröhlichen Menschen allüberall auf den Straßen und Plätzen.
Zwischen all den fröhlichen Menschen in Madrid kam ich mir als mich vor einer Corona-Ansteckung fürchtender bundesdeutscher Tourist ein wenig albern vor, wenn ich zum Beispiel zögerte, mich beim Treppauf- und
-absteigen als ob der Strapazen mühselig Keuchender mit der Hand am Geländer festzuhalten, das Tausende andere vor mir angefasst hatten. Im Fernsehen hatten die Experten in den stündlichen Nachrichten für meine Begriffe ein bisschen zu viel darüber geredet, dass angesichts der vier Infizierten für Madrid keine Gefahr bestehe, um mit ihren Unbedenklichkeitserklärungen wirklich glaubhaft zu wirken.
Wie sich dann später herausstellte, hatte ein Spiel der Champions League zwischen der Mannschaft des spanischen FC Valencia und den Fußballern aus Bergamo in Oberitalien dazu geführt, dass das bis dahin ahnungslose Madrid zum zweiten katastrophenartigen Hotspot der Pandemie avancierte – mit einem hoffnungslos überforderten Krankenhaussystem, jeder Menge Corona-Toten und einem wochenlangen totalen Lockdown. Vorbei das ganze fröhliche südländische Volksfest, Ende der immerwährenden, grandiosen Fiesta. Stattdessen sang man jetzt abends auf den Balkonen der zu Quarantänefestungen gewandelten Wohnungen und applaudierte Abend für Abend dankbar den aufopferungsvollen medizinischen Pflegekräften, die sich bis zur Erschöpfung um die vielen schwer an COVID-19 Erkrankten kümmerten.
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