Noch konnte sie nicht ahnen, dass es mehr, bewegendere und vielschichtigere Tänze gab als die des Nordens, mit ihren Gruppentänzen, den Kreisformen, der Gasse – die sie besonders liebte -, mit ständigen Partnerwechseln, Paartänzen und all ihren Mischformen.
Das Leben am Hofe erwies sich für Stefania jedoch schnell als goldener Käfig. Die Liebe zur Freiheit und der Wunsch nach eigener Entscheidung führten sie immer weiter in das Reich der Tänze ein. Hier konnte sie vergessen, dass sie als Tochter einer Magd niemals frei von Entscheidungen anderer über ihr Leben sein würde. Da der Tanz allerdings eine brotlose Kunst war, musste sie für ihren Lebensunterhalt und die Krankenversorgung ihrer alten Mutter stets viel arbeiten. Dies tat sie wie seinerzeit schon ihre Mutter, am Hofe, denn die Gunst des Königs und seines Sohnes waren ihr stets gewiss. So kam es denn, dass sie die Freude ihres Lebens durch die Arbeit als Magd - und hin und wieder auch als Bedienstete bei der Bewirtung hochrangiger und namhafter Gäste - bestreiten konnte. Sie führte als junge Frau ein zufriedenes und ausgeglichenes Leben. Trotz ihrer Armut konnte sie von einem erfüllten Dasein sprechen: der Tanz gab ihr die Kraft!
Und dennoch sehnte sie sich nach Herausforderungen, neuen Bewegungen und neuer Musik. Sie fühlte sich unwohl, unvollständig: waren diese Wünsche etwa Anzeichen einer Tollheit, wurde sie verrückt? Gab es überhaupt andere Tänze, andere Musik und andere Welten? Sie plagte sich mit diesen Fragen Nacht für Nacht. Am Tage jedoch lebte sie ihre Tänze, genoss den Zuspruch ihrer Freunde und die Höflichkeiten, die ihr trotz ihres Standes auch von Adeligen zuteilwurden.
Sie litt bereits seit einiger Zeit unter den nächtlichen, quälenden Fragen, den vergeblichen Hoffnungen und Wünschen, als ihr vom König höchstselbst die Anfrage angetragen wurde, ob sie abkömmlich sei für eine Woche, in der der König Gastgeber werden würde für Herren des Morgenlandes! Welche Gedanken, welche Hoffnungen und welch Aufregung erfuhr Stefania da: es gab so viele Mythen um die Höfe der orientalischen Könige und Herren, die man Kalifen, Scheichs und Emire nannte und deren Geschichten sie aus ihren Büchern kannte: man sprach von Harem und Raubzügen, von unglaublichen Kenntnissen der ärztlichen Kunst, von prachtvollen Gebäuden, von Speisen, Getränken und Gerüchen, die kein ihr bekannter Mensch vorher erlebt hat. Oh, was sagte sie zu mit Freuden.
War dies doch ein Abenteuer, wie es eine Frau aus Deutschland wohl nur selten erleben konnte oder durfte.
Die Tage und Wochen vergingen wie im Fluge: Stefania erkundigte sich an allen Ecken nach Benimm- und Kleidungsregeln, lernte ein paar arabische Worte der Höflichkeit und nähte sich ein Kleid, welches dem Hörensagen nach der Kleidung einer arabischen Hofdame entsprach. Sie fragte die Lehrer aus, befasste sich ein wenig mit der Geschichte des Orients und versuchte, sich die arabischen Länder näherzubringen. So erfuhr sie auch von dem von Mauren immer wieder besetzten Spanien und davon, dass an den großen Höfen Arabiens viele hohe Herren der spanischen Sprache – zumindest in Teilen - mächtig seien. Es erleichterte Stefania, dass wohl doch ein wenig Konversation möglich sein könnte.
Schon war die Zeit des Wartens vergangen. Stefania kleidete sich in ihr selbstgenähtes Gewand und begab sich zum Hofe des Königs, wie es der Absprache gemäß war.
Sprachlos vor Erstaunen war sie, als sie schon von Weitem die Musik hörte und die Tänzerinnen sah: Klänge, die so noch nicht vernommen, Instrumente, die so zuvor noch nicht gesehen und Tänzerinnen, die mit ihrer dunklen Haut, ihren dunklen Haaren und nahezu schwarzen Augen nie zuvor in diesem Teil des Landes gesichtet wurden. Kehlige Laute und Trommeln, drängend und fremd, füllten den Saal.
Und dann die Tänze: Welch Anmut und Geschmeidigkeit, welch feine Bewegungen konnten die Tänzerinnen vollführen. Voller Weichheit, Ehrlichkeit und Reinheit drehten und wendeten sie Arme, Hüften und Oberkörper, die wie losgelöst vom Rest des Körpers sich zu bewegen schienen, während gleichzeitig Beine und Füße sich - so hatte es den Anschein – eigenständig zum Takt der Musik bewegten. Und obgleich auch diese Tänzerinnen wie hierzulande in Gruppen tanzten, waren ihre Tänze in weiter nichts vergleichbar mit denen, die Stefania kannte. „Wie nur“, fragte sie sich, „wie kann ein Mensch diese Bewegungen vollführen? Ist es nicht Gott, der den Tänzerinnen seine Gunst erweist und solch harmonische Tänze für gut befindet? Gibt es denn solch einen Gott auch für den Orient? Ja, es muss wohl so sein“. Sie war sich dessen gewiss.
Und dann die Kleidung: zu jedem neuen Musikstück erschienen die Tänzerinnen in unterschiedlicher Bekleidung: lange, eng anliegende Kleider, die glitzerten und an denen Perlenschnüre herabhingen, die Arme unbedeckt; dann wieder bauchfrei, geradezu hüllenlos, vom Oberkörper nur die Brust bedeckt. Dazu ein langer weiter Rock, der aus mehreren übereinander liegenden Schichten von Stoff genäht war und beim Drehen wunderbar aufschwang. Um die Hüfte gewickelte Tücher, an denen gleichfalls Perlenschnüre und Münzen befestigt waren, welche schwangen und klimperten, während sich die Tänzerinnen zur Musik bewegten. Oh, das war eine Augenweide. Stefania war hypnotisiert vom Anblick all der Farben, Formen und Bewegungen, dem Klang und Takt der fremden Musik…
…und dann sah sie sie: die Eine, die aus der Menge hervortrat und ganz alleine zu einer neu beginnenden Melodie zu tanzen begann, während sich alle anderen Tänzerinnen langsam zurückzogen... Ach, welch Wonne für die Augen – welch eine Wohltat für das Ohr und was für eine Erfüllung der Träume der Seele! Dieses wunderschöne, dunkelhaarige Wesen voller Anmut und Eleganz, voller Bewegung, Leben und Selbstsicherheit. Da waren weiche, schlangenhafte Bewegungen des Körpers, die zur Melodie getanzt wurden und gleichzeitig härtere, rhythmische Bewegungen der Füße, die sich zum Takt der Musik bewegten. Ihr Körper schien losgelöst von den Kräften der Erde und des Himmels - es schien, als sei nur sie und sonst nichts mehr von der Welt.
Ich.
Da wusste ich: diese Eine ist es, sie musste es sein, auf die ich wohl ein Leben lang gewartet hatte. Die Freundin und die Schwester, die ich nie hatte. Ich wusste, ich musste diese Frau davon überzeugen, mir das Tanzen beizubringen. Diesen Tanz, neu und anders; der Tanz, der die Frau selbst verkörpert und der durch die Frau erst zum Tanz wird.
Und dann trafen sich die Blicke - pur und ehrlich, tief und seelenverwandt, einzigartig und doch: bekannt, erwartet, erhofft. Nicht mehr nötig waren Worte, Erklärungen und Namen; nicht notwendig waren Sprachen, Schrift noch Äußerungen. Wir sahen uns in die Augen und wussten: Du bist die Freundin, die ich immer suchte. Du bist die Eine, die ich zum Leben brauche, weil du schon immer bei mir warst und für alle Zeiten, in allen Leben, meine Schwester sein wirst.
Von diesem Moment an gab es für mich nur noch eines: den wundersam anmutigen Tanz des Morgenlandes zusammen mit meiner Seelenschwester zu erlernen, zu tanzen und zu leben.
Wir begannen noch am selben Abend, ohne viele Worte aber mit viel Spaß und Freude, gemeinsam zu tanzen. Wir lachten viel, verstanden uns - und aufgrund der wenigen Worte, die jede von uns in der Sprache der anderen beherrschte, und dank ein paar Bröckchen Spanisch lernten wir schon in kurzer Zeit ein wenig mehr der Anderen Sprache.
Mayjidah – so war der Name der dunkelhaarigen orientalischen Schönheit mit dem Glanz und dem Feuer in den funkensprühenden Augen – war mir eine gute Lehrerin, denn es war nicht einfach, die Teile des Körpers nahezu unabhängig voneinander zu bewegen. Mayjidah nannte dieses Kombinieren von unterschiedlichen, gleichzeitig getanzten Bewegungen „Trennung“.
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