»Niemals«, sagte der sofort.
Koros beugte sich leicht vor und schaute ihm tief in die Augen. So tief, dass Pais glaubte, sein Kopf würde von seinem Blick durchbohrt.
»O, doch, du wirst. Du wirst mir helfen. Ich sage dir, was du zu tun hast, und du wirst mich verteidigen, und wenn es sein muss, wirst du dein Leben für mich opfern.«
Pais konnte sein Gesicht nicht abwenden. Er war wie gelähmt. Er wollte dem eisigen Blick des Herrschers entfliehen, aber er konnte nicht. Koros’ Stimme hallte in seinem Kopf wider. Immer lauter wurde sie, drang immer tiefer in ihn ein. Sie übertönte alles andere. Sie verhinderte, dass er einen klaren Gedanken fassen konnte. Er konnte überhaupt nicht mehr denken. Da war nur noch diese Stimme.
»Lass mich sehen, was du gesehen hast. Zeige mir, was dich quält. Offenbare mir dein Geheimnis«, sprach Koros, ohne die Lippen zu bewegen. Er war jetzt in seinem Verstand.
Pais konnte sich nicht wehren. Sein Gehirn war eine Kommode von Schubladen. Koros öffnete eine nach der anderen und durchwühlte sie. Gnadenlos. Er durchwühlte seine Erinnerungen. Die guten und die schlechten. Vor allen Dingen die schlechten. Die interessierten ihn am meisten.
»Zeige es mir!«
Nichts blieb mehr verborgen. »Ah! Was haben wir denn da? Eine Flucht? Du bist von den Ahnenländern getürmt, als du noch jung an Jahren warst. Hast Freunde und Verwandte im Stich gelassen? Wie schrecklich! Aber da ist noch mehr. Mehr!
Ein anderer. Er hat dir wehgetan. Er hat dich verletzt. Tiefe Schnittwunden in deiner Seele hinterlassen. Wie gemein von ihm!
Was ist denn das? Rachegefühle. Rache gegen ihn? Gegen deinen eigenen Bruder? Aber Rache passt doch nicht zu dir. Du bist kein Mann der Vergeltung.
Aber sie zieht dich an. Versuche, es erst gar nicht zu leugnen. So viele Jahre hast du sie unterdrückt.
Ich kann dir helfen, alter Mann. Ich kann dir bei deiner Rache helfen. Sie wird glorreich sein. Das verspreche ich dir.«
Pais starrte mit leeren Augen ins Nichts.
Er war nicht mehr Pais Ismendahl. Dieser Mann war in die hinterste Ecke seines Geistes gedrängt und konnte nur noch hilflos mitansehen, wie sein neues Bewusstsein geboren wurde, dessen Vater Koros Cusuar hieß.
Das fremde Ich hatte von nun an die Kontrolle über ihn. Es war besessen von dem Gedanken der Vergeltung.
Tödliche Vergeltung für eine Lappalie gegen seinen älteren Bruder, dem Vorsteher des Siebten Hauses der Ahnenländer.
Er war angekommen.
Das Erste, was Antilius wahrnahm, war ein leises Rauschen von Blättern im Wind. Es war ein sehr angenehmes Geräusch. Er fühlte sich gut. Sein Geist war von allen Sorgen und Ängsten losgelöst.
Er lag auf dem Rücken. Seine Augen waren geschlossen, und aus irgendeinem Grund fiel es ihm schwer, sie zu öffnen. War es die Schwere, die ihn befallen hatte, oder war es dieses angenehme Gefühl, das ihn wie eine warme Decke umwickelte, das ihn zögern ließ, die Augen zu öffnen?
Wo war er? War er allein?
Antilius wollte den Boden mit seinen Händen abtasten. Er konnte aber keinen Boden fühlen. Unter ihm war nichts, das er fühlen konnte. Er spürte einen Anflug von Beunruhigung. Jetzt war sie doch wieder da - die Angst. Er drehte sich zur Seite, öffnete seine bleiernen Augen und blickte unter sich. Dorthin, wo er den nicht tastbaren Boden vermutete. Doch da war nichts. Weit, weit unter sich sah er ein tiefschwarzes Loch. Seine Augen weiteten sich. Es war kein Loch. Das schwarze Nichts waberte gleichmäßig. Es war Wasser. Wasser überall! Schwarz wie Teer.
Das kann nicht sein! Das ist etwas schiefgelaufen, dachte er. Wie bin ich hierhergekommen?
Er drehte sich wieder um und schloss seine Augen. Das Säuseln der Blätter. Darauf wollte er sich wieder konzentrieren. Er hatte es doch gehört. Wo war es? Wo waren die Blätter? Oder kam das Rauschen von der wabernden Schwärze unter ihm?
Es gelang ihm, das angenehme Geräusch wieder zu hören. Er versuchte sich vorzustellen, dass er sich genau dort befand, wo diese Bäume waren, durch die der sanfte Wind streifte. Er stellte sich vor, dass er unter einer Gruppe von Trauerweiden lag, und dass ihre tief hängenden Äste dicht über ihm den Wind einfingen.
Seine Hände suchten wieder festen Boden - und fanden ihn. Sand rann durch seine Finger.
Er fasste wieder Mut und öffnete erneut seine Augen. Ein prachtvoller Sternenhimmel breitete sich hinter den Blättern einer Trauerweide über ihm aus. Es war dunkel, aber nicht sehr. Es kam ihm vor wie eine helle Vollmondnacht, aber es gab keinen Mond. Er suchte die Lichtquelle am Himmel, aber er fand sie nicht. Und die Sterne? Es waren keine Sterne. Sie waren größer. Sie strahlten anders und glitzerten auf unnatürliche Weise.
Zögernd stand Antilius auf und schaute sich um. Er befand sich am Rande eines kleinen Waldes, seine Füße versanken leicht in weißem Sand.
Er war nicht mehr auf Thalantia, das spürte Antilius deutlich.
Sollte dies das Ende aller Wege sein? War dies jener Ort, an dem sich alles zusammenfügte? War dies vielleicht sogar eine Art Jenseits?
Er ordnete seine Gedanken. Plötzlich fiel ihm wieder ein, dass er ja nicht ganz allein war. Er hatte den Spiegel noch immer bei sich. Hastig zog er ihn aus seinem Gürtel und schaute hinein. Gilbert war aber nicht zu sehen. Nur das leere Bett, der Stuhl und der Tisch. Das Fenster war geschlossen.
»Gilbert, bist du da?«
Sein Ruf blieb aber ungehört. Gilbert war fort. Er war nicht mehr in seinem Gefängnis, dem Spiegel. Hatte er einen Weg herausgefunden?
Dutzende von Möglichkeiten schwirrten Antilius durch den Kopf, darunter immer wieder eine, die ihm einen kalten Schauer den Rücken hinunterlaufen ließ, sodass er diese Möglichkeit gleich wieder aus seinem Kopf strich. Gilbert war nicht dumm. Womöglich ergab sich für ihn die Möglichkeit, seinem Gefängnis zu entkommen, als Antilius in diese Welt übergetreten war. Er würde es ihm jedenfalls wünschen.
Aber was ist, wenn …? Wenn er durch das Fenster gestiegen ist? Und dann …
Im Nichts kann auch nichts existieren.
»Schluss damit! Du musst jetzt das Orakel suchen!«, sagte er sich.
Er prüfte erneut seine Umgebung. Niemand war zu sehen. Kein Mensch. Kein Tier.
War er hier das einzige Lebewesen? Brelius könnte sich auch geirrt haben. Immerhin war er nicht mehr vollständig Herr seines eigenen Verstandes. Hatte er ihn an den falschen Ort geführt?
»Ganz ruhig. Sieh dich erst mal ein wenig um«, beruhigte er sich selbst.
Er ging los. Irgendwohin. Die Richtung bestimmte sein Gefühl.
Er überquerte eine breite und schroffe Hügellandschaft. Dahinter erstreckte sich ein Kornfeld. Alles war in dieses diffuse silbrige Licht getaucht, das keinen speziellen Ursprung hatte. Antilius konnte nicht erkennen, um welche Pflanzen es sich handelte. Alles schimmerte bei dem schwachen Licht in einem verwaschenen Silbergrau. Ein Weg führte am Feld entlang. Er war schnurgerade und schien unendlich lang zu sein.
»Ein befestigter Weg! Also muss es hier doch noch jemanden geben.«
Bestärkt wanderte Antilius ein wenig schneller als zuvor.
Er lief und lief und lief. Der Weg schien kein Ende nehmen zu wollen. Die Landschaft veränderte sich nicht mehr. Ihn beschlich das ungute Gefühl, dass er im Kreis ging, obwohl der Weg immer nur geradeaus zu verlaufen schien. Es sah trotzdem alles gleich aus. Trat er nur auf der Stelle? War das wieder nur eine Illusion, wie vorhin das Meer, über dem er geschwebt zu sein schien? Er suchte nach einem Orientierungspunkt. Aber es gab keinen. Feld und Weg. Mehr nicht. Nichts, was ihm einen Hinweis darauf gab, wo er sich befand, oder wohin er gehen müsste. Er setzte dennoch seine Wanderung fort.
Auf einmal hörte er ein Rascheln neben sich im Feld, das zwar nur etwa hüfthoch war, dafür aber so dicht, dass man nicht hinein sehen konnte. Einige Halme bewegten sich. Was immer es war, es schlich im Schutz des Feldes parallel neben ihm her.
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