In den Finsteren Ebenen gab es vorwiegend nur Wegelagerer, Plünderer, Meuchler und dazu noch all jenes Getier, das einem sonst nur beim Schlafen in einem Albtraum begegnet.
Und so schwer es Wrax auch fiel, er musste sie rekrutieren. Insbesondere die Gorgens, die eine eigene Stadt in den Finsteren Ebenen, in Küstennähe im Nordosten von Truchten, gegründet hatten. Die Gorgens waren in den Augen von Koros die Qualifiziertesten unter dem ganzen Abschaum, den Wrax für seinen Ersten sammelte. Fast die gesamte Stadt Gorgonia war bereit, dem Herrscher in den Krieg zu folgen.
Krieg? Nein. So wollte Wrax es nicht bezeichnen. Widerstand war zwar zu erwarten, aber dieser war in Anbetracht der Übermacht, die er zusammentrieb, nutzlos.
Das hoffte er zumindest.
Die Tatsache, dass Koros die Ahnenländer angreifen wollte, nicht weil er sie erobern wollte, sondern um das Portal in der Nähe der dortigen Adler-Berge aufzubauen, hatte Wrax während seiner harten Arbeit stets verdrängt. Aber innerlich beunruhigte ihn der Gedanke. Er hatte noch keine Ahnung, was Koros genau anstrebte. Die Zeittore und das Avionium im Adler-Gebirge bei den Ahnenländern - beides konnte er nicht in einen Zusammenhang bringen.
Er vertraute aber dessen ungeachtet seinem Ersten. Koros war es einst gewesen, der ihn nach seiner Flucht aus der Stadt der Seelenlosen bei sich aufgenommen hatte. Er hatte dafür gesorgt, dass Wrax wieder Selbstbewusstsein schöpfen konnte.
Es stellte sich heraus, dass Wrax ein außerordentlich gutes planerisches Geschick besaß, was Koros natürlich förderte und ihn somit zu seinem engsten Vertrauten machte. Es war seinem Ersten egal, ob Wrax ein Mensch war oder nicht, denn das wusste Wrax selbst nicht. Äußerlich sah Wrax eigentlich wie ein Mensch aus. Wenn da nicht seine feuerrot glühenden Augen gewesen wären. Seine Augen, wegen denen er als Kind ständig gehänselt wurde. Sie waren auch der Grund, warum die meisten, denen er in seinem Leben begegnet war, Angst vor ihm hatten. Manche glaubten, er sei eine Ausgeburt eines schrecklichen Dämons. Und manchmal, ja manchmal, da ging es Wrax so schlecht, dass er das sogar selbst geglaubt hatte.
Doch Koros war es einerlei, welcher Abstammung sein Berater war. Schon allein aus diesem Grunde verbot es sich ihm, seinem Ersten unangenehme Fragen zu stellen oder gar Kritik zu üben. Nein. Er durfte nicht zweifeln. Und er musste ihm folgen.
In einem Moment, in dem Wrax sich unbeobachtet fühlte, verließ er den großen Sammelplatz hinter dem Palast seines Ersten, auf dem die Katapulte und die zwei Brücken gebaut wurden. Er legte sich auf eine schlichte Holzbank. Er war sehr müde und wollte nur ein kurzes Nickerchen machen. Ganz kurz.
Ehrlich!
Aber es war ihm nicht vergönnt.
Koros Cusuar erschien unangemeldet. Er wollte sich über den Zustand seiner Armee informieren. Wrax schnellte aus seiner Liegehaltung hoch.
Warum muss er ausgerechnet JETZT kommen? Er hat sich die ganz Zeit nicht blicken lassen. Warum hat er mich nicht früher in seine Pläne eingeweiht? Dann hätte ich mehr Zeit gehabt, um alles vorzubereiten. Mehr Zeit!
»Es tut mir sehr leid, Erster! Ich ahnte ja nicht, dass Ihr so früh kommen würdet«, entschuldigte er sich.
»Schon gut, Wrax. Ihr habt in der letzten Zeit sehr hart gearbeitet. Ich verstehe, dass Eure Kräfte aufgezehrt sind, aber es wird sich lohnen, das verspreche ich.«
»Davon bin ich überzeugt, Erster«, sagte Wrax erleichtert, aber unsicher.
Koros schlenderte ungewöhnlich gelassen zum Sammelplatz, der eigentlich der riesige Park seines Anwesens war. Früher einmal musste er prächtig ausgesehen haben, bevor Koros hier eingezogen war. Heute diente der Park der Vorbereitung eines kriegerischen Angriffs. Der Sammelplatz befand sich direkt vor seinem Palast. Der Prachtbau war vor zehn Jahren noch eine verlassene Ruine gewesen, als er beschloss, es zu seinem neuen Zuhause zu machen. Das war kurz nachdem das Flüsternde Buch ihn gefunden hatte. Das Buch hatte ihm gesagt, dass die Ruine nun ihm gehören solle. Diese Ruine verberge etwas Wundervolles, sagte es. Und ja. Das Buch hatte ja so recht. An diesem Ort war das erste Fragment versteckt gewesen, das erste Zeittor.
»Dann erzählt mir, mein treuer Berater, was Ihr für mich habt«, sagte er gespannt.
Wrax war bemüht, sich trotz Müdigkeit zu konzentrieren und räusperte sich. »Ich habe wirklich eine äußerst exzellente Mischung von Kämpfern zusammengestellt. Dort hinten seht Ihr, wie sich die Gedankenwandler vorbereiten. Es gelang mir, elf von ihnen anzuwerben. Sie haben die Aufgabe, mehrere Horden Piktins unter Kontrolle zu bringen und als Vorhut in den Kampf zu schicken. Gleich daneben werden vier Katapulte gefertigt. Wenn ich mit aller Bescheidenheit hinzufügen darf: Sie entstammen meinen eigenen Entwürfen. Sie sind leichter in der Bedienung und lassen sich schneller nachladen als die alten Modelle. Mit ihnen können wir die Druckluftbomben, die Ihr entwickelt habt, Erster, über die Schlucht schießen. Die Gorgens werden sich uns dann anschließen, wenn wir aufbrechen. Ich habe mit ihnen gesprochen, und sie haben verstanden, wofür wir sie brauchen werden.«
»Sehr schön Wrax, das habt Ihr sehr gut gemacht. Ich bin beeindruckt.«
Wrax war stolz. Die Müdigkeit war vergessen. »Das ist noch nicht alles, Erster. Es ist mir ebenfalls gelungen, Borus und Greifer zu finden und hierher zu bringen. Die Borus werden als Lasttiere die Brücken zur Schlucht tragen. Und wir werden sie brauchen, um die Brücken auch aufzubauen.«
»Greifer? Von denen habe ich noch nie etwas gehört. Zeigt sie mir.«
Wrax pfiff laut einen der Greifer zu sich her. Er sah aus wie ein Mensch. Nur seine Hautfarbe war extrem blass. Fast schneeweiß. Greifer, wie sie hierzulande genannt wurden, stammten von dem Volk der Felten ab. Einem Volk, das in den Schneegebirgen der Inselwelt Panthea lebte. Koros war verwundert. »Und? Was ist so besonders an ihm?«
Der Greifer streckte seine Arme aus, die sich zu dehnen begannen. Die Arme wurden immer länger. Der Greifer stand einige Meter von dem verdutzten Koros entfernt, wobei seine Hände ihn fast berühren konnten.
»Wage es nicht, mich anzufassen«, sagte er kalt.
»Verschwinde! Der Erste hat genug gesehen!«, befahl Wrax eilig, um seinen Ersten nicht zu verstimmen.
Enttäuscht zog der Greifer seine Arme wieder ein und verschwand zu den anderen.
»Sehr bemerkenswert, Wrax. Ich hoffe, diese langen Arme werden noch von Nutzen sein. Es ist Euch gelungen, mich zu überraschen.«
»Ich hoffe, Ihr seid nur positiv überrascht.«
»Aber ja. Macht Euch keine Sorgen. Ihr habt eine starke Truppe aufgestellt. Mit ihrer Hilfe, wird es ein Kinderspiel sein, die Ahnen-Tölpel zu besiegen.«
»Ganz bestimmt.«
Koros setzte seinen Spaziergang fort. Wrax folgte ihm. Wie immer.
»Was ist mit den Brücken?«
»Die Konstruktionen sind fast abgeschlossen. Ich kann Euch trotz größter Sorgfalt aber nicht versichern, dass sie stabil genug sein werden. Die Schlucht ist fast einhundert Meter breit. Starke Stürme könnten sie ins Wanken bringen. Zu große Belastung könnte sie entzweibrechen lassen.«
»Sie wird halten. Davon bin ich überzeugt«, sagte sein Herrscher beinahe gelangweilt.
Wrax machte eine Pause, um zu überlegen, wie er am behutsamsten seinen Ersten über dessen genaue Pläne befragen konnte. Eigentlich hatte er sich geschworen, nicht nachzufragen. Aber diese Ungewissheit und die ständig in seinem Kopf bohrende Frage, ob es richtig ist, das zu tun, was von ihm verlangt wurde, ließen ihm keine Ruhe.
»Sagt mir Erster, was habt Ihr vor? Was wollt Ihr mit den Zeittoren anstellen?«
Koros blieb stehen und drehte sich zu Wrax um. Dieser erschrak leicht, weil er fürchtete, seinen Ersten erzürnt zu haben. Man konnte bei Koros nie genau wissen, wie er reagieren würde.
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