»Und was ist mit den Spähern? Sie haben die Largonen in eine Art Gefängnis eingesperrt, bevor Ihr gekommen seid und das Zeittor aktiviert habt. Warum haben die Späher das gemacht? Warum haben sie Koros damit geholfen, ihm den Weg zum Tor zu vereinfachen?«, fragte Antilius ungeduldig.
»Ohne jeglichen Widerstand wird es Koros ein Leichtes sein, das Tor zu entwenden. Ich befürchte, die Späher haben noch etwas viel Grauenhafteres vor als er selbst. Ich habe es gesehen. Ich kann es nicht in Worte fassen. Meine Augen konnten in meinen Träumen nur einen flüchtigen Blick erhaschen von dem, was die Späher vorhaben.«
»Was habt Ihr gesehen?«, hauchte Antilius.
»Ich habe es nur durch die Augen des Orakels gesehen. Jenes Orakel, das mir deinen Namen verriet. Das mir von deinen Augen erzählte. Das Orakel, das mich zurück zu diesem verfluchten Ort getrieben hat, weil es glaubte, ich könne meinen Fehler ungeschehen machen.«
»Nun spannt mich nicht länger auf die Folter. Was habt Ihr gesehen?«
»Das Ende. Das Ende von allem. Das Nichts. Wenn die Späher und das Flüsternde Buch ihr Werk vollendet haben, wird nichts als endlose Dunkelheit zurückbleiben. Der Transzendente wird nur der Anfang sein. Wenn die Macht der Transzendenz aus dem wieder zusammengefügten Portal befreit und auf Koros Cusuar übertragen wird, dann wird etwas erwachen, das noch viel gefährlicher ist als der Transzendente.«
Das Puzzle fügte sich in Antilius’ Kopf langsam zu einem Bild zusammen, auch wenn er nicht verstand, was Brelius meinte. Er hatte gehofft, dass es nicht noch schlimmer werden würde. Aber seine Hoffnung wurde nun auf eine harte Probe gestellt. Er fürchtete, sie nicht zu bestehen.
»Seid Ihr sicher, was Ihr gesehen habt?«
Der alte Sternenbeobachter hustete kränklich. »Ich bin zwar dabei, meinen Verstand zu verlieren, aber solange ich mir noch meines schwindenden Geistes bewusst bin, solange ich noch mit mir selbst reden kann, bin ich noch immer Brelius.«
Antilius fiel es schwer, immer wieder mit einer Abart des Verfalls konfrontiert zu werden. Erst der Verfall der nur kurz andauernden Gemeinschaft mit Haif und Pais, dann der sterbende Sandling, der vor Antilius’ Augen zerfiel, und jetzt der sterbende Verstand von Brelius Vandanten. Es lastete schwer auf ihm.
»Was muss ich tun?«, fragte er düster.
»Du musst deine Gabe erforschen. Du musst herausfinden, was deine Bestimmung ist. Irgendetwas an dir ist besonders. Das musst du ergründen. Nur so kannst du dem Bösen entgegentreten. Und ich glaube, dass es mit deiner Vergangenheit zu tun hat. Die Vergangenheit, an die du dich nicht mehr erinnern kannst.
Das Orakel. Es wird dir bei deiner Suche helfen. Finde das Orakel, dann findest du auch deine Gabe. Sie wird deine einzige Waffe gegen Koros sein.«
Brelius kramte in seiner Hosentasche und zauberte einen dunklen Stein hervor. Er sah aus wie ein schwarzer Kristall.
»Das hier ist der Rest des Schlüsselsteins, der mich hierher führte. Er ist zerbrochen, als ich ihn benutzt habe, um das Zeittor zu öffnen. Dieses Bruchstück wird dich in das eigentliche Herz von Verlorenend führen. Dort lebt das Orakel. Ich habe ihm versprochen, dass du kommst.«
Antilius nahm den Stein an sich und drehte ihn zwischen seinen Fingern. »Eure Tochter macht sich große Sorgen um Euch. Sie erwartet Euch zurück«, sagte er.
»Ich wünsche mir nichts sehnlicher auf der Welt, als sie wiederzusehen. Aber ich muss mich hier verstecken.«
»Ihr werdet sie wiedersehen.«
Antilius konnte in den Augen des alten Mannes sehen, dass er die Hoffnung, seine Tochter noch einmal wiederzusehen, aufgegeben hatte. »Es wird Zeit. Du musst jetzt gehen. Die Späher suchen bereits nach dir«, sagte Brelius.
»Und was werdet Ihr machen?«
»Ich werde versuchen, die Späher abzulenken, wenn sie hier doch noch aufkreuzen sollten. Es könnte ja sein, dass sie deine Spur verfolgen, und das muss ich verhindern.«
»Lasst Euch nicht erwischen, Herr Vandanten.«
»Keine Sorge. Finde das Orakel, Antilius«, sagte Brelius aus trüben Augen.
Antilius verließ schließlich den alten Mann, der gegen den Verlust seines Verstands ankämpfte.
Er ging durch die sternenerfüllte Nacht eines Ortes im Nirgendwo. Und er ging zu einem Ort im Irgendwo.
Der Stein wies ihm den Weg. Er fing an zu leuchten, wenn er die richtige Richtung einschlug und lotste ihn wie ein Kompass. Der Stein war ein Stück des Avioniums.
Dieses verfluchte Zeug, dachte Antilius missmutig.
Als er den Spiegel von Gilbert aus seiner Hosentasche hervorholte und dabei in der anderen Hand den Stein hielt, fiel ihm ein seltsames Leuchten über der Spiegeloberfläche auf. Es sah aus wie eine winzige Nebelwolke, die aus dem Spiegel hervorquoll.
Antilius fiel prompt ein, was Brelius in seinem Tagebuch erzählt hatte. Nämlich, dass das Avionium die Schwerkraft beeinflussen konnte. Und dann dachte er daran, dass Koros das Portal in den Ahnenländern aufbauen wollte, weil dort vermutlich das Avionium aus dem Adler-Gebirge seine gebündelte Energie auf das Portal irgendwie übertragen würde. Wenn das Avionium dies alles fertig bringen konnte, konnte es dann auch das Spiegelgefängnis öffnen? Schließlich war es auch eine Art Portal.
Antilius hielt den Stein dichter an den Spiegel heran und tatsächlich vergrößerte sich die leuchtende Nebelwolke. Doch mehr geschah nicht.
Antilius steckte den Stein nachdenklich ein und sah in den Spiegel. Gilbert schlief in seinem Bett. Er hatte das Gespräch mit Brelius nicht mehr verfolgt. Die Müdigkeit hatte ihn überwältigt.
Antilius weckte ihn auf und erzählte ihm, was er gerade eben herausgefunden hatte. Gilbert war schläfrig und schien fast gar nicht sonderlich interessiert an der besonderen Entdeckung mit dem Avionium zu sein. Er erklärte nur, dass er sich nicht daran erinnern könnte, wie er in den Spiegel eingesperrt worden war, weil er zu diesem Zeitpunkt bewusstlos gewesen sei. Deshalb konnte er auch nicht bestätigen oder verneinen, dass das Avionium der Schlüssel zur Freiheit sein könnte. Sein scheinbares Desinteresse rührte von der Tatsache her, dass er sich schon so viele Male während seiner Gefangenschaft falsche Hoffnungen gemacht hatte, aus seinem Gefängnis entkommen zu können.
»Dass ich mal endlich hier rauskomme, ist einfach zu schön, um wahr zu sein«, sagte er gähnend und resigniert.
»Wer weiß«, sagte Antilius und ging die letzten Schritte Richtung Verlorenend.
Die Tage gingen vorüber. Antilius merkte davon nichts, weil er sich, seit er in das Zeittor bei den Largonen gegangen war, nicht mehr im normalen Zeitgefüge befand.
Jemand anderes bekam die Zeit dagegen deutlich zu spüren:
Wrax’ Augenhöhlen wurden von Tag zu Tag dunkler. Er war ununterbrochen damit beschäftigt, die Weisungen seines Ersten auszuführen. Kein Zweifel, Koros hatte Großes im Sinn. Daran wagte Wrax nicht eine Sekunde lang zu zweifeln. Immer neue Ideen kamen dem Herrscher in den Sinn, immer neue Pläne, neue Strategien, wie er die bevorstehende Schlacht gegen die Dreizehn Häuser der Ahnenländer für sich entscheiden wollte.
Sein Berater hatte die Aufgabe, so viele Sympathisanten wie möglich zu sammeln, egal woher sie kamen. Eine große Armee sollte entstehen. Wrax hatte in allen Städten für die Pläne seines Ersten werben lassen. Mit Erfolg. Es gab viele, die einen Groll gegen die Dreizehn Häuser hegten. Sie hatten den Ruf, von arroganten, selbstgefälligen Schwächlingen regiert zu werden. Sie lebten in verschwenderischem Luxus, besaßen Essbesteck aus Gold, hieß es. Dekadent.
Nichts davon entsprach den Tatsachen, aber es war für Koros eine willkommene Propaganda.
Die meisten Rekruten sammelte Wrax jedoch in den Finsteren Ebenen. Eine üble Gegend im Nordosten, um die man besser einen großen Bogen machen sollte, wenn einem das eigene Leben lieb war. Denn Leben hatte dort nur wenig Bedeutung. Und das war auch gut so. Koros brauchte Söldner, die für ein paar Münzen ihr Leben hingaben. Ohne zu überlegen. Ohne zu zögern.
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