Sie gingen aus dem Hauptgebäude heraus zu einem Geräteschuppen. Hinter einer alten Decke kam das Spiegeltor zum Vorschein.
Als sie vor dem Spiegelglas standen, konnte Antilius nicht sehen, was dahinter lag. Es war dunkel.
»Wo wird er mich hinführen?«
»Zu einem Ort, an dem ihr vor den gierigen Augen und Ohren der Späher geschützt seid. Das hoffe ich zumindest.«
»Danke für eure Hilfe«, sagte Antilius, wobei er sich nicht sicher war, ob der Largone ihm wirklich freundlich gesinnt war.
»Du darfst nicht versagen, Menschling! Ich habe soeben meine Hand für dich ins Feuer gelegt. Wenn du scheiterst, werde ich bei den Largonen meinen Führungsanspruch verlieren, weil ich mich für dich eingesetzt habe. Die Vorstellung, uns von einem Menschling helfen zu lassen, bereitet uns - vorsichtig ausgedrückt - Unbehagen. Bekämpfe das Böse! Überliste die Späher! Durchkreuze ihre Pläne. Kehre zurück und befreie uns. Wir müssen das Zeittor um jeden Preis schützen. Es darf nicht in falsche Hände geraten. Ich glaube an dich. Ich glaube, dass du die Augen hast.« Er machte eine Pause. »Wir glauben, dass du die Augen besitzt.«
Der letzte Satz machte Antilius stutzig. »Schließt das auch den Großen mit dem Vorschlaghammer ein?«
Der Largone lächelte. Ein sanftes Lächeln. Ungewöhnlich für eine Kreatur seiner Statur. »Mach dir darum keine Sorgen.«
»Hoffentlich bemerken die Späher nicht, dass ich von hier verschwinde«, sagte Antilius. »Ich bin den Spähern im Stein der Zeit begegnet. Sie haben mich nicht direkt daran gehindert, das Zeittor zu benutzen. Wahrscheinlich wollten sie mich auf diese einfache Weise auch loswerden, indem ich quasi freiwillig in eurem Gefängnis lande.«
»Wir wissen, dass sich die Späher als Hüter der Zeit ausgeben. Doch das, was jetzt geschehen ist, lässt mich an ihrer Ehrlichkeit zweifeln. Finstere Mächte sind am Werk und wollen die Macht der Transzendenz befreien.
Geh jetzt, Menschling. Beeil dich!«
Ohne sich zu verabschieden, schritt Antilius durch den Spiegel.
Kurz nachdem er hinter dem durchgängigen Glas verschwunden war, vernahm der Largone noch seine Stimme.
»Ich werde euch da raus holen«, sagte sie.
Pais Ismendahl und die Gorgens
Pais Ismendahl verweilte noch fast eine Mondstunde lang vor der Tür, die ihn fast ein paar Finger gekostet hätte, als sie sich unvermittelt geschlossen hatte.
Er rief fortwährend nach Antilius und Gilbert (ja, auch nach Gilbert), doch konnte er auch nicht den leisesten Ton von der anderen Seite der Tür vernehmen.
Einerseits fühlte er sich schlecht und niedergeschlagen, weil er seine Freunde verloren hatte. Andererseits hatte er schon seit Längerem geahnt, dass Antilius seine Suche alleine würde fortsetzen müssen. Pais hatte ihm geholfen, bis hierher zu kommen. Und hier trennten sich nun ihre Wege. Antilius würde fortan auf sich alleine gestellt sein, allenfalls unterstützt durch Gilberts altkluge und überflüssige Ratschläge.
Zögerlich wandte sich Pais von der Tür zum Dunklen Tunnel ab und schlurfte nachdenklich und erschöpft zurück zur Treppe, die nach oben führte. Gedankenverloren durchquerte er die Räumlichkeiten des Largonen-Gebäudes.
Als er wieder draußen war und die letzten Sonnenstrahlen des Tages sein wettergegerbtes Gesicht berührten, überlegte er, ob sich die Bezeichnung ‚Halle des Schicksals’ auf das gesamte Gebäude bezog oder nur auf den Raum, in dem sich das Zeittor befinden sollte. Es war natürlich unsinnig, sich darüber Gedanken zu machen, doch es lenkte ihn von der plötzlichen Einsamkeit ab, die ihm mehr zu schaffen machte, als er sich jemals hätte eingestehen wollen.
Er überquerte die Zugbrücke am Rande der Festung. Heute schien es schneller als sonst dunkler zu werden. Pais entschied sich daher, nahe einer kleinen Kolonie von Almelienbüschen sein Nachtlager aufzuschlagen. Almelienbüsche waren dornige und dichte Gewächse, die bläuliche und giftige Beeren hervorbrachten. Sie wuchsen meist ringförmig. In der Mitte des Rings würde Pais vor ungebetenem Besuch geschützt sein, oder zumindest würde er alles hören können, das versuchen würde, sich ihm durch das Gebüsch zu nähern.
Die Nacht verlief ruhig. Pais konnte sogar relativ gut schlafen. Obwohl er schon mit den ersten Sonnenstrahlen erwachte, döste er noch lange, als die Sonne schon hoch am Himmel stand.
Er dachte an die Zeit, als er noch in den Ahnenländern gelebt hatte. In der Stadt der Ahnen, die in einem großen uralten Vulkankrater errichtet worden war. Der Krater war so tief, dass man die Stadt von Meereshöhe aus gar nicht sehen konnte. Er dachte an den großen schmalen Turm, der im Zentrum der Stadt aus dem tiefsten Punkt des Kraters in schwindelerregende Höhe ragte.
Manchmal, nicht oft, aber manchmal vermisste er seine alte Heimat. Er vermisste diejenigen, die er zurückgelassen hatte; jene, die er wohl nie wieder würde sehen können. Er bereute seinen damaligen Entschluss zur Flucht nicht. Niemals hatte er das getan. Auch heute nicht. Es war richtig zu gehen. Der wachsenden Arroganz, die sich in der Stadt der Ahnen wie ein Geschwür ausbreitete, zu entgehen, war schon immer sein Wunsch gewesen.
Und doch konnte er der süßen Vorstellung nicht widerstehen, seine Freunde, seinen Bruder und seine Schwester wiederzusehen. Besonders seinen Bruder. Er hatte in den Ahnenländern eine wundervolle Kindheit verbracht, auch wenn Pais damals immer als ein Außenseiter galt. Das hatte er selbst jedoch nie so empfunden.
Und während Pais immer tiefer in seiner Vergangenheit versank, merkte er nicht, wie ein paar Gestalten nur wenige Meter von ihm entfernt sich leise unterhielten. Erst als drei andere sehr nahe an seinem Versteck im Gebüsch vorbeiliefen, wurde er unsanft aus seinem Tagtraum gerissen und schreckte hoch.
Vorsichtig lugte er durch das dichte Geäst. Das, was er sah, erschreckte ihn zwar nicht, weil er damit schon gerechnet hatte, aber er spürte, wie er zornig wurde. Und wenn Pais zornig wurde, war das kein gutes Zeichen für den Verlauf des Rests des Tages.
Er zählte mehr als zwei Dutzend Gorgens, die dabei waren, sich erheblich aufgeregt hinter ein paar großen Felsbrocken zu verschanzen. Sie unterhielten sich dabei in ihrer merkwürdigen Sprache mit den zischenden und knackenden Lauten.
Sie waren nur knapp vierzig Meter von ihm entfernt.
Pais holte zur Sicherheit seine Armbrust heraus und legte einen Bolzen ein. Die Gorgens waren deutlich in der Überzahl. Wenn Pais sich ruhig verhalten würde, würde er mit ein wenig Glück unbemerkt bleiben.
»Was haben die jetzt schon wieder vor?«, flüsterte er zu sich selbst.
Die Gorgens lugten immer wieder hastig über die Felsblöcke hinweg und schauten auf eine weiter entfernte Stelle. Pais konnte dort nichts Besonderes erkennen.
Die Gorgens wurden immer nervöser. Sie zischten sich gegenseitig an und zappelten wild herum. Sie waren wie in Ekstase.
Pais versuchte immer noch herauszufinden, was sie so sehr erregt hatte, als plötzlich ein gewaltiger, dumpfer Knall alle anderen Geräusche verstummen ließ. Pais riss die Augen auf.
Die von den Gorgens beobachtete Stelle wölbte sich kreisförmig in einem Durchmesser von mindestens fünfzig Metern und explodierte schließlich. Geröllmassen, Bäume, Sträucher und tonnenweise Sand wurden in die Höhe geschleudert und regneten anschließend dröhnend wieder auf die Erde herab. Die Trümmer flogen so weit, dass Pais beinahe aus seinem Versteck hätte fliehen müssen, wollte er nicht von einem der herabstürzenden Brocken getroffen werden.
Es dauerte eine Weile, bis sich der Staub gelegt hatte.
Pais lugte wieder vorsichtig durch das Gestrüpp und konnte den Krater sehen, den die Explosion hinterlassen hatte. Die Gorgens rannten darauf zu und jubilierten dabei.
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