„Es handelt sich auf alle Fälle um keine unproblematischen Jugendlichen“, sagte Anne und hob ihren Kugelschreiber mahnend in die Höhe. „Das müsste euch klar sein.“
„Du hast Recht, Anne. Nachher nehmet die Drogn und randalieret.“ Volker Zauner blickte bedenklich drein. „Des könntet mir in Lämmerbach net brauchn. Mir müsset an unsre eignen Kinder denkn.“
Paula schaute bei diesen Worten krampfhaft in Richtung Theke. Das Erlebnis mit Hannes stand ihr lebhaft vor Augen. Auch Anne kritzelte eifrig auf ihrem Blatt herum und wirkte mit einem Mal sehr beschäftigt.
„Die werdn ja sicher fachmännisch betreut und sind net sich selber überlassn“, warf der Bürgermeister ein. „Und unsere eignen Jungn machn au so manchn Blödsinn. Ich möcht für mein Georg net die Hand ins Feuer legn.“
„Amen dazu und für eure Josepha besser auch nicht“, meinte der Pfarrer säuerlich und erntete dafür einen bösen Blick seines weltlichen Kontrahenten. Das störte ihn jedoch wenig. Er nutzte, nachdem er nun seine heilige Zurückhaltung gebrochen hatte, die Gelegenheit, gleich noch ein paar Worte hinzuzufügen: „Meine lieben Geschwister, wir müssen das alles aus einer höheren, sozusagen göttlichen Perspektive betrachten. Wäre ein solches Internat in Lämmerbach nicht ein erneutes Wunder? Die Antwort auf unsere inbrünstigen Gebete nach Belebung?“ Er wagte sogar ein charismatisches Lächeln, während seine Hände sich gen Decke streckten. „Eine Aufgabe für uns alle, diesen jungen, verblendeten Menschen den rechten Weg zu zeigen?“
„Es kommt halt drauf an, wo der Weg hinführt“, meinte Herr Tannhauer trocken und grinste höchst unprofessionell, „eher in die Kirch oder lieber ins Wirtshaus.“
Er bekam vom Pfarrer und vom Bürgermeister gleichermaßen einen strafenden Blick zugesandt und stellte sein Grinsen daraufhin abrupt ein.
Bei so viel Unterstützung von bürgerlicher Seite, wagte der Kirchenführer sein nächstes Anliegen vorzubringen, eine Sorge, die ihn bereits seit Beginn der Sitzung mit aller Macht umtrieb. Er räusperte sich und schaute einmal schwergewichtig in die Runde. Zum Schluss blieb sein Blick bei Paula hängen: „Gehe ich recht in der Annahme, dass es sich bei diesem Internat um keine kirchliche Institution handelt?“ Ein erneutes Räuspern folgte. „Ich mein halt, wenn ein katholischer Träger dahinterstecken würde, wäre das natürlich ein Problem für uns hier in Lämmerbach.“ Nun hüstelte er sogar. „Nicht, dass ich was gegen die Katholische Kirche hätte, aber äh… Ich nehme an, Sie wissen, was ich mein, Fräulein Müller.“
Daran hatte bisher natürlich niemand gedacht und Paula versprach dies möglichst schnell in Erfahrung zu bringen.
Zuerst musste allerdings eine generelle Entscheidung getroffen werden.
Bauer Vollmer war dafür, die Jungs auf eine der Almen zu stecken. Dort konnten sie nicht so viel Unheil stiften. Davon hielt aber Volker Zauner nicht viel, vor allem, wenn dabei die Sennalm ins Spiel käme. Er wollte keinen Haufen Krimineller vor seiner Nase sitzen haben. Auch die Hochalm schied mehr oder weniger aus, weil die ja von den Leipolds voll bewirtschaftet wurde. Man schaute sich ratlos an. Auf diesem Wege würde man zu keiner Einigung gelangen.
„Vielleicht sollten wir Julias Verwandten einfach herkommen lassen, damit er sich selbst einen Eindruck verschafft und wir mehr über seine Vorstellungen erfahren“, schlug Anne irgendwann vor, als sie vom Hin- und Herdiskutieren genug hatte. „Möglicherweise sind ja genug Steuergelder da, dass ein völlig neues Gebäude gebaut werden kann. Dann können wir uns die Almen- und Häuserdiskussion sparen.“
Der Bürgermeister wirkte erleichtert und wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Wer is für der Anne ihr Idee? Jetzt will ich aber nur die Händ von Stimmberechtigte sehn.“
Die Angesprochenen hoben einmütig die Hand, Tante Lieselotte allerdings erst, nachdem sie von Volker in die Seite geboxt worden war. Anne schrieb daraufhin eifrig ins Protokoll.
„Um was gings gleich noch amol bei dem Vorschlag?“, fragte das Fräulein mit einem unsicheren Lachen, nachdem die Abstimmung endlich dokumentiert worden war.
Volker Zauner stöhnte verzweifelt vor sich hin, stopfte sich aber statt einer Entgegnung lieber seine Pfeife.
Herr Tannhauer schlug dagegen vor, sie demnächst mal mit in die Stadt zu nehmen, um ihr ein Hörgerät zu organisieren.
„Ich hab halt net alles verstandn. Die Anne redet manchmal so leis“, entschuldigte sie sich.
„Aber abstimmen tust trotzdem, solang du noch dein Arm heben kannst“, resümierte der Bürgermeister und hoffte auf die kommenden Wahlen. Mit einem solchen Gremium arbeiten zu müssen, war eine Zumutung.
Paula nahm ihre Freundin im Anschluss an die Sitzung zur Seite und fragte, ob der Bürgermeister etwas von der Drogengeschichte im Herbst erfahren habe.
„Du meinst, weil er gleich reagiert hat?“ Anne zog eine Grimasse. „Nun ja, irgendwie schon. Ihm fiel auf, dass sein Sohn tagelang mit Stecknadelpupillen herumlief. Allein vom Schnaps kam das nicht. Außerdem erschien es mir angebracht, wenigstens den Bürgermeister in die Sache einzuweihen. Wir haben das anschließend auf unkonventionellem Weg geklärt. Georg ging eine Woche lang jeden Morgen Holzhacken und ich habe dein Bruderherz dazu gezwungen, Georg ausführlich zu schildern, wie solche Entgiftungsmaßnahmen ablaufen. Ich denke, das war für alle Beteiligten eine ausreichende Lektion.“
So kam es, dass sich innerhalb kürzester Zeit zum zweiten Mal auswärtiger Besuch in Lämmerbach ankündigte. Julia wollte ihren Verwandten sogar begleiten.
Anne bot sich großzügig an, die Gäste bei sich im Arzthaus einzuquartieren. „Ich habe gerade eh mehr leere Zimmer als mir lieb ist“, meinte sie und spielte damit auf Daniels Ausbleiben an. Seit seiner überstürzten Abreise hatte sie kein Lebenszeichen mehr von ihm erhalten und es nach seinem Abschiedsgruß auch nicht gewagt, ihn eigenmächtig anzurufen.
Neben diesen außerplanmäßigen Überlegungen setzte Paula in den nächsten Tagen ihre ganze Kraft dafür ein, ihre Schülerinnen und Schüler vor den Ferien auf die Visitation der Schulbehörde zu trimmen. Immerhin stand der Termin inzwischen fest, wenn sie auch bezüglich des Inhaltes weiterhin ahnungslos war. Selbst Julia hatte ihr nicht weiterhelfen können. Ihre Kenntnisse über Schulkontrollen beliefen sich auf spontane Besuche des Direktors.
Zum Glück stand sie mit ihren Bemühungen nicht völlig allein da. Sie bekam Hilfe von unerwarteter Seite. Weil so viel von einem guten Eindruck bei dieser außerdörflichen Visitation abhing, war ganz Lämmerbach bereit, entsprechend Einsatz zu bringen.
In den letzten zwei Schultagen vor den Ferien rückte folglich alles an, was zwei Beine und dazu möglichst geschickte Hände hatte, um das Schulgebäude in einem Schnellverfahren zu sanieren.
Zwei Männer weißelten die Wände und Decken, einige besserten Stühle und Tische aus, die nächsten machten sich an die Schränke. Einer nahm sich alle Fenster im Haus vor und kittete die Risse. Der Ofen wurde grundgereinigt. Herr Tannhauer erbarmte sich sogar der Toilette und brachte von der Stadt eine neue Kloschüssel samt Waschbecken mit und flieste nebenher noch den Boden.
Paula hatte genug damit zu tun, belegte Brote und Getränke zu reichen und im Anschluss mit den rüstigen Frauen zusammen eine Putzorgie zu veranstalten.
Hinterher glänzte das Gebäude förmlich. Nun konnten die Herren und Frauen aus der Stadt kommen. Lämmerbach würde sich ihnen furchtlos und erhobenen Hauptes stellen. Zumindest der Hals war sauber.
An Gründonnerstag reiste Julia mit ihrem Cousin an.
Paula hatte vorher wenig Zeit gefunden, sich zu überlegen, wie dieser Phillip wohl sein würde. Trotzdem sah sie im Geiste einen älteren Herrn mit Brille und Stirnglatze. Eben ähnlich jenem Psychologen, mit dem es Hannes nach dem Tode seiner Mutter zu tun bekommen hatte. Das Bild des trauernden, psychisch angegriffenen Witwers tat sein Übriges.
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