Paula dämmerte es. „Und was habt ihr jetzt vor?“
„Das wollte ich eigentlich dich fragen. Unser Pfarrer wird seine Zuflucht im Gebet suchen und auf ein Wunder hoffen und der Rest redet sich ein, dass alles irgendwie gut wird, selbst wenn die Berge über uns hereinbrechen.“
„Sprich mit Herrn Schaup. Der erscheint mir vernünftig. Außerdem kümmert er sich sowieso um den Vertrieb. Und Herr Tannhauer ist sicher auch eine gute Adresse.“
„Das stimmt. Herrn Schaup muss ich den Brief nachher ohnehin vorbeibringen. Vielleicht hat er eine Idee dazu.“ Anne dachte kurz nach und meinte dann: „Wenn ich Daniel überzeugen könnte mitzumachen, wäre alles halb so wild. Mein Bruderherz hat ein geschicktes Händchen für das Showgeschäft. Als er in München studierte, bekam er sogar mal eine Nebenrolle in einer dieser Vorabendserien, die als Dauerbrenner im Fernsehen ausgestrahlt werden. Und in einem Werbespot für ein Deodorant war er auch schon zu sehen. Mit solchen Sachen hat er sein Studium finanziert.“
Das konnte sich Paula bildlich vorstellen. Laut sagte sie: „Du kannst ja durchblicken lassen, dass solche Reportagen meist von Frauen gemacht werden - blonden, attraktiven Frauen.“ Es sollte ironisch klingen, aber sie merkte, dass ein bitterer Unterton mitschwang.
Die Hebamme war jedoch zu sehr abgelenkt, als dass es ihr auffiel. „Ruf doch mal bei Gelegenheit deine kreative Freundin in Mainz an. Die findet für alles eine Lösung.“
Paula hängte sich beim ersten Aufkeimen der Stromversorgung tatsächlich ans Telefon.
Julia amüsierte sich köstlich über ihren eingeschneiten Zustand und wollte alle Details hören. Besonders der Unterricht bei Kerzenschein imponierte ihr. Dann wurde das Thema ernster. Sie wirkte hörbar betroffen vom Tode des alten Dr. Martin. Paula verpflichtete sie natürlich zur Verschwiegenheit.
Die nächsten Minuten hörte die Freundin ganz gegen ihre Gewohnheit schweigend zu. Paula breitete alles vor ihr aus: die anstehende Visitation der Schulbehörde, Daniels Abtauchen, die Zukunft der Käseproduktion und die jüngste Prämierung mitsamt Filmdokumentation.
„Donnerwetter“, sagte sie zum Schluss. „Das hört sich spannend wie ein Krimi an. Wie viele Leichen habt ihr denn in den letzten Wochen heimlich unter die Erde gebracht?“
„Außer der alten Frau Friedrich und Dr. Martin soviel ich weiß niemand. Aber falls ich demnächst die Fahrt über den Pass wagen sollte, würde ich garantiert als weiblicher Ötzi in die Geschichte der Menschheit eingehen: Die erste Lämmerbacher Gletscherfrau.“
„Wir werden deine Mumie selbstverständlich bei uns in der Schule ausstellen. Mir kommt da übrigens gerade eine Idee…. Ich melde mich, wenn ich etwas Genaueres weiß…“ Und weg war sie.
Paula konnte ihr „Hey, das kannst du jetzt aber nicht bringen“, gar nicht mehr loswerden.
Die nächste Woche verflog nur so. Paula machte es beinahe schon Spaß, zu unterrichten. Selbst das „Mehrere-Fächer-und-Klassenstufen-Parallel-System“ war allmählich zu bewältigen. Außerdem gab es inzwischen wieder die volle Stromdosis und das komplette Lebensmittelsortiment. Jeder wusste diesen Luxus zu schätzen und zeigte sich dankbar.
Die letzten Tests hatten dazu weitestgehend erfreuliche Ergebnisse gebracht. So allmählich glaubte Paula, dass die meisten ihrer Schüler die Klassenabschlussprüfungen schaffen konnten, wenn sie sich in dem Maße weiter steigerten.
Allerdings stand die Schulinspektion in wenigen Wochen an und niemand konnte ihr bislang sagen, wie diese ablaufen würde und was man dabei von ihr erwartete. Julias Antwort ließ noch auf sich warten. Über das hinaus besaß sie wenig Vergleichsmöglichkeiten, was den Leistungstand der verschiedenen Klassenstufen betraf. Zu allem Unglück bekam Jörgs ehemaliger Laptop in letzter Zeit häufig eine Art Schluckauf, was hieß, dass es ständig Aussetzer gab, so dass er nur noch bedingt für den Schulunterricht geeignet war. Hannes hatte ihn bereits mehrfach auseinandergeschraubt, mit dem Ergebnis, dass er beim Starten nun nicht einmal mehr hochfuhr.
Am Freitagabend kam endlich Julias Rückruf.
Hannes schaute gerade einen billig produzierten, dafür umso lauterer Actionfilm, so dass sich Paula mitsamt Telefon ins Bad einschloss.
„Hallo, Süße“, wurde sie begrüßt und dann kam die Anruferin ohne Umschweife zur Sache. „Du wirst es nicht glauben, aber ich habe für dich meine Beziehungen spielen lassen und schrecke dabei nicht einmal vor meiner eigenen Verwandtschaft zurück.“
„Das verspricht spannend zu werden.“
„Mit Sicherheit. Aber immer der Reihe nach. Ich werde damit vermutlich nicht alle eure Probleme lösen, dazu müsste man Gott sein, aber ich habe mir Mühe gegeben.“
„Sehr löblich.“
„Wegen des Besuchs deiner Schulbehörde mach dir mal keine allzu großen Gedanken. Wir werden dir ein Fremdcoaching einrichten.“
„Ein was?“
„Guter Ausdruck, findest du nicht? Das soll heißen, unsere Schule wird dich in allen wichtigen Fragen coachen. Es hat sich immer ein Fachlehrer gefunden, auf den du im Notfall per Internet oder Telefon zurückgreifen kannst, falls dir deine Behörde wegen fachfremden Unterrichtens an den Karren fahren will. Sie würden auch notfalls irgendwelche Klausuren für dich erstellen und die deiner Schüler korrigieren, falls das notwendig sein sollte. Frau Hillmann, der Schrecken aller Schüler, ist zum Beispiel darunter. Sie möchte dir gern geographisch und biologisch unter die Arme greifen.“
„Du meine Güte, wie hast du denn die dazu gebracht?“
Als Antwort folgte erst ein kleines Kichern, dann eine wohldosierte Pause. „Ich habe ihr von Opa Vollmer vorgeschwärmt und nebenbei erwähnt, dass es bei euch nur so von rüstigen Senioren wimmele. Das gesunde Gebirgsklima wirke sich äußerst vorteilhaft auf alle Bereiche des täglichen Lebens und Liebens aus.“
Paula stöhnte verzweifelt. „Du bist dir schon im Klaren, was du da tust?“
„Schwierige Situationen erfordern unkonventionelle Lösungen… Die Not rechtfertigt auch verzweifelte Mittel. Wahrscheinlich wird der Direktor demnächst einen Lehrerausflug nach Lämmerbach organisieren…“
„Du machst nur Spaß, oder?“, fragte Paula hoffnungsvoll.
„Okay, ich gebe zu, das war übertrieben. Aber vielleicht siedelt Frau Hillmann nach ihrer Pensionierung zu euch über. Wer weiß? Ich finde, so jemand wie sie würde euer Dorf echt bereichern.“
„Und wer steht sonst noch auf der Liste?“
„Ich natürlich und… das Beste habe ich dir bis zum Schluss aufgehoben: Jörg Markhoff. Falls du in Physik irgendwelche Probleme haben solltest, kannst du dich jederzeit vertrauensvoll an ihn wenden, soll ich dir ausrichten. Im Notfall käme er sogar für einen Kurzurlaub vorbei.“
Paula wäre vor Überraschung beinahe in die leere Badewanne geplumpst, auf deren Rand sie sich niedergelassen hatte.
„Vielleicht leistet er sich im Nachhinein ein schlechtes Gewissen. Oder es liegt daran, dass ihn seine neueste Flamme, eine Jungreferendarin, abserviert hat. Die ist leider nicht so taktvoll wie du. Seither gehen Gerüchte in der Schule um, dass nur halb so viel an ihm dran wäre, wie er andere gern glauben machen wolle.“ Julia kicherte.
Paula schwieg zu dem Thema sicherheitshalber.
„Und dann wäre da noch die Sache mit der Verwandtschaft.“
„Stimmt, von der war ja noch gar nicht die Rede.“
„Genau. Ich habe mir in den letzten Tagen ein paar Gedanken zu deinem Lämmerbach gemacht. Der Pass ist wirklich ein Problem. Trotzdem müsste dieser Ort belebt werden.“
„Irgendwie habe ich bei diesem Wort ein flaues Gefühl, zumindest wenn es aus deinem Munde kommt.“
„Unterbrich mich bitte nicht ständig. Jetzt wird es nämlich kompliziert und ich muss etwas ausholen. Nenne es Fügung oder Schicksal oder auch Gottes Wille, das ist mir egal, aber ein Cousin zweiten Grades von mir ist ebenfalls Lehrer und zusätzlich ausgebildeter Psychologe. Er unterrichtet an einer Schule für schwer erziehbare Jugendliche. Eine Art privates Internat.“
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