Die Reisetasche wurde hinter dem Beifahrersitz platziert und wenige Sekunden später saß ein fremder Mensch neben ihm. Als er hinüberblickte, um sich sein Gegenüber genauer anzusehen, blieb ihm kurz die Luft weg.
Diese Augen waren definitiv nicht die eines jungen Kerls, wie er angenommen hatte. Er war mehr als überrascht. Sein Gegenüber lockerte den Schal und geschwungene Lippen kamen zum Vorschein.
Der neue Beifahrer streckte ihm die Hand zur Begrüßung entgegen und schob zeitgleich mit der anderen die Mütze vom Kopf. Ein Berg von langen braunen Haaren kam zum Vorschein.
»Hallo! Ich heiße Laura. Toll, dass du mich mitnimmst.«
Ihm strahlte ein dankbares Lächeln entgegen, bei dem er kurz vergaß, zu reagieren.
Die zu einem Schmunzeln verzogenen Lippen gehörten zu der ungeschickten Frau aus der Raststätte.
Kapitel 3
Was hatte Mike sich nur gedacht? Was zum Teufel war in ihn gefahren, einen Anhalter mitzunehmen? Das hatte er noch nie getan! Warum jetzt?
Und warum konnte es nicht wenigstens ein schweigsamer Kerl sein, der unablässig in sein Handy starrte oder schlief? Nein, er erwischte gerade diese tollpatschige Frau. Erst jetzt wurde ihm richtig bewusst, was er sich mit seiner spontanen Aktion aufgehalst hatte. Er hatte exakt die Person neben sich sitzen, die durch ihre ungeschickte Art vorhin in seinen Fokus geraten war.
Als wenn das nicht schlimm genug war und nicht vollkommen ausreichen würde, hatte sie unglaublich faszinierende Augen, die ihn aus einem wunderschönen Gesicht anblickten. Diese strahlenden Iriden sahen ihn direkt an und ließen ihn seinen Entschluss bereuen. Auf so etwas oder besser gesagt, auf so jemanden war er schlichtweg nicht vorbereitet.
Er betrachtete sie trotz allem neugierig. Ihre Pupillen waren nicht bloß braun. Wenn man genauer hinsah, konnte man blau, grau und grün darin ausmachen. Es war eine Mischung aus all diesen Farben. Zusammen ergab es eine funkelnde Mischung aus Nachthimmel, Saphir und Dschungel. Zumindest kamen ihm diese Wörter in den Sinn.
Ihre langen Haare hatten die gleiche Farbe wie seine kastanienbraun, sie waren zusätzlich von einigen goldenen Strähnen durchzogen. Ihre Mähne war leicht gewellt, sah weich und geschmeidig aus, nicht so strubbelig wie sein Haarschopf. Durch die herabgezogene Mütze war es chaotisch und wirr. Dann fielen ihm auf ihrer Stupsnase und ihren Wangenknochen die feinen Sommersprossen auf.
All diese kleinen Dinge hatte er vorhin in dem Schnellrestaurant von Weitem nicht erkannt.
Manchmal hasste er seinen Blick für Details. Diesen besaß er schon immer, sein Hobby hatte ihn noch verschärft und ließ sich im Alltag kaum abstellen.
Erst als er all seine abstrusen Gedanken geordnet hatte, wurde ihm bewusst, dass sie ihn wartend anblickte. Als Nächstes begriff er, dass er endlich sprechen sollte. Er blickte auf ihren Arm, den sie ihm noch immer entgegenstreckte. Er wandte sich ihr zu und nahm seine Finger vom Lenkrad, das er fest umklammert hatte.
Mike ergriff Lauras Hand, bewegte sie auf und ab und versuchte sich an einem Lächeln.
Reden! Worte benutzen! Er sollte antworten, mit ihr sprechen. Er räusperte sich vorsorglich, denn er traute seiner Stimme nicht, zumal sein Hals sich trocken und rau anfühlte. Die Anwesenheit seiner Beifahrerin nervte und verwirrte ihn gleichermaßen. Auf jeden Fall war er mit der Situation, in die er sich hineinmanövriert hatte, überfordert. Dass Laura attraktiv war, verbesserte seine Grundstimmung nicht wirklich.
»Hallo Laura, ich bin Mike. Schön, dass du bei mir bist!«
Was? Kacke! Was redete er da?
»Ähm, ich meine, ich freue mich, dich kennenzulernen.«
Ja, das war besser. Einerseits wahr und andererseits … nun, im Grunde wollte er niemanden kennenlernen und nur mit Ruhe bis in den Norden Deutschlands fahren.
»Freut mich auch Mike«, erwiderte sein Fahrgast amüsiert. Man sah deutlich, dass sie sich ein Lachen verkneifen musste. Sie dachte sich ihren Teil, fand es aber amüsant, dass er so einen Unsinn redete.
Lauras Stimme war nicht hell, sie ging eher in Richtung Altstimmlage oder als hätte sie als Baby Wodka statt Milch bekommen. Trotzdem war sie sehr melodisch.
Sie lächelte ihn an.
»Ich habe ehrlich gesagt mit einem alten Knacker gerechnet, nicht mit einem Mann in deinem Alter. Du fährst eine historische Karre, voll altmodisch.« Sie deutete auf den Innenraum und das gesamte Auto.
Das war typisch Frau, altes Fahrzeug ist gleich greiser Fahrer. Kein Verständnis für die schönen, betagten Dinge. Mike folgte ihrer Geste und blickte zu ihr.
»Das ist nicht nur ein Auto. Das ist ein Oldtimer! Er ist älter als ich«, erklärte er und konnte seinen genervten Ton nicht völlig abstellen.
Sie bemerkte es nicht, sah ihn lediglich abwartend an und lächelte.
»Ich mag alte Sachen, die haben wenigstens Charakter. Ganz besonders mein Hardy hier«, fügte Mike hinzu und sah, dass er sie neugierig gemacht hatte. Doch hatte er keine große Lust auf ein ausgedehntes Gespräch mit ihr.
Er war gedanklich längst in Kiel und wehrte sich gegen wiederkehrende Vorwürfe seiner Eltern. Ohne dass er es verhindern konnte, drückte das seine Laune in den Keller.
Lauras Stimme holte ihn zurück.
»Hardy? Sag jetzt nicht, dass du deinem Wagen einen Namen gegeben hast.«
»Doch natürlich. Er ist so einzigartig und speziell, dass er einen verdient hat.«
Laura lachte leise und erheitert.
Belächelte sie ihn oder machte sie sich über ihn lustig?
Mike konnte es nicht sagen.
»Also können wir los?«, fragte er und versuchte damit, das Thema zu wechseln. Sie nickte zur Bestätigung.
»Wohin musst du?«, fragte sie ihn interessiert.
»Ich fahre bis Kiel«, antwortete er und drückte auf das Gaspedal, um endlich von diesem Parkplatz zu kommen.
Laura schnallte sich eilig an, während Mike die Auffahrt befuhr. Nach kurzer Zeit begann es zu regnen und er schaltete die Scheibenwischer ein. Laura folgte der Bewegung der Wischer, die einem abgehakten Intervall folgten und völlig anders liefen als die eines modernen Autos. Sie ließ ihren Blick über den Innenraum des alten Opels gleiten. Alles war eckig und kantig. Das Radio mit manueller Senderwahl und Drehrädchen musste noch das Ursprüngliche sein.
Auch wenn sie mit altem Krempel nichts anfangen konnte, fand sie diesen in die Jahre gekommen Opel, originell und besonders. Obwohl sie ihn nicht kannte, fand sie, dass er gut zu ihm passte.
Sie blickte zu ihm hinüber und ihr Blick fiel auf seine lockigen und chaotischen Haare. Irgendwie sah es wie das Fell eines Lämmchens aus. Innerlich grinste sie über ihren Gedankengang. Sie erinnerte sich an das kürzlich geführte Gespräch.
»Du sagtest, das Auto ist älter als du? Was heißt das?« Sie sah ihn abwartend an.
»Neunundsiebzig gebaut«, war seine schlichte Antwort.
»Okay, dann bist du jünger als … einundvierzig«, stellte sie sachlich fest. »Siehst auch nicht so aus.«
»Hm«, gab er monoton von sich, ohne ein weiteres Wort hinzuzufügen.
Was war mit ihm los? Mike sah nett aus, war aber dem Anschein nach einer von der mürrischen Art und wirkte zusätzlich noch genervt.
Gut, er musste ihr keinen Roman erzählen, aber ein bisschen Small Talk konnte man doch halten. Sie beschloss, es erneut zu versuchen. Vielleicht wollte er nur nicht über sich reden.
»Hardy also? Wie kommt man auf diesen Namen?«
Er sah kurz zu ihr, bevor er den Blick wieder auf die Straße richtete.
»Interessiert dich das wirklich?«, fragte er brummend.
»Sonst hätte ich nicht gefragt. Außer du willst nicht mit mir reden.«
Mike blickte eine ganze Weile auf die Straße. Er schaltete den Wischer aus, da es aufgehört hatte zu regnen. Sie dachte schon, dass sie keine Antwort mehr bekäme.
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