„Du hast diesen Kram in Säcke gepackt, alles an Kleidung, Schuhe und Krawatten und schmeißt das auf den Müll?“
„Ja, genau das habe ich gemacht.“
Ich erzählte sehr lange und ausführlich über die letzen Wochen in Deutschland. Es tat mir gut offen darüber zu sprechen, was seit einiger Zeit in mir vorging. Marjet war die erste außerhalb der Familie mit der ich über meine Angst und die Wut sprach und so fing an, die ganze Geschichte zu erzählen. „Die ersten Wochen mit Vater nach meiner damaligen Rückkehr aus Amsterdam waren komplett anders geplant“, begann ich und berichtete dann von meinen Gedanken und Gefühlen der ersten Zeit: „Ich hatte so gehofft, dass Vater mich weiter gewähren lässt und sich zurückzieht. Ich kannte es seit der Kindheit nicht anders, unser Vater bestimmte wer, was, wann in der Familie, und besonders im Unternehmen, tun und lassen sollte. Ich habe zu spät kapiert, was mit mir dabei passiert. Weißt du noch Holly, wir haben einmal über den „Überwachungsstaat Hellmann“ gesprochen. Es ist viel schlimmer als wir damals vermutet haben. Er überwacht uns nicht nur, er benutzt uns.“
Holly hatte Tränen in den Augen: „Hendrik, es tut mir leid, dass es so gekommen ist. Ich habe gedacht, du bist gerne für uns alle eingesprungen und wolltest die Verantwortung übernehmen, weil ich nichts mit Vater und der Firma zu tun haben wollte.“
„Lass Holly, es ist okay.“ Nachdem ich meiner Schwester erzählt hatte wie der Tag verlaufen war, und was meine Mutter mir gestanden hatte, war sie sprachlos. Das Ereignis im Wald erwähnte ich nicht.
„Was soll ich sagen Hendrik? Es musste so oder anders dramatisch enden.“
„Ich bin jetzt hier, will jetzt nach vorne sehen und schnell entscheiden wie es weiter geht. Der Anfang ist gemacht, als nächstes muss ich mit unserem Vater sprechen, je früher desto besser. So und jetzt möchte ich über euch und Amsterdam reden und mich freuen wieder hier zu sein.“ Ich wollte für heute einen Schlussstrich ziehen und die beiden Frauen nicht noch mehr belasten.
Wir entschieden uns, fein auszugehen. Erst einen Drink und danach ein ausgefallenes Abendessen. Nach einstimmiger Meinung wäre der beste Ort dafür das „Vinkeles“ in der Keizersgracht. Wir würden uns chic anziehen, könnten zu Fuß gegen und in der Bar beginnen, um in den Abend und die Nacht einzutauchen. Holly rief dort an und reservierte einen Tisch für drei Personen. Ich ging in mein Bad in die oberste Etage und zog mir einen dunkelblauen Anzug mit weißem Hemd an. Als ich fertig war, setzte ich mich wieder in den Sessel vor dem Fenster zur Gracht und trank von dem Rotwein. Von oben hörte ich die Geräusche der beiden Frauen. Ich drehte den Sessel zu der Wand mit den Bildern. Mir fiel das erstes Mal auf, dass auf keinem der Fotos, die ich damals hier aufgehängt hatte, Menschen zu sehen sind. In jedem der Bilder hatte ich früher Momente gesehen, in die ich mich hinein gewünscht hatte. Ich fühlte mich auf einem der Segelschiffe bei der Regatta, bei Sonnenschein auf dem Deich, bei Sturm am Meer, mit dem kleinen Ruderboot auf dem Kanal entlang der Wiesen fahren, beim Sonnenuntergang am Meer, in den Dünen liegen, im Liegestuhl sitzen mit einem Glas Weißwein in der Hand durch das man nicht durchsehen kann, weil es beschlagen ist. Diese Bilder sagten mir alle das gleiche. Alleine zu sein, keine Verpflichtungen zu haben, keine Rücksicht nehmen zu müssen, nicht in den Plan eines anderen zu gehören, bedeutet, die Freiheit zu haben, sein eigenes Glück suchen zu können.
Ich bemerkte Holly, die die Treppe herunter kam. Sie trug ein mattrotes Seidenkleid, rote hohe Lackschuhe, eine Kette mit einem großen silbernen Anhänger. Ihr kurzes dunkles Haar war durch eine Baskenmütze bedeckt, über dem Arm trug sie einen schwarzen Trenchcoat. Ich drehte den Cocktailsessel in ihre Richtung und staunte. Sie wurde zu einer Frau mit Persönlichkeit und Stil. Hinter ihr betrat auch Marjet die Treppe. Als beide Frauen nebeneinander standen, lächelte Holly, sah erst ihre Freundin und dann wieder mich an und fragte: „Nimmst du uns so mit? Gefallen wir dir?“
„Die Frage ist nicht, ob ich euch mitnehme, sondern Ihr mich?“ Wir lachten alle drei. Marjet trug einen dunkelbraunen Hosenanzug mit tiefem Ausschnitt und weiße Sneakers. „Ich für meinen Teil nehme euch mit Vergnügen mit. Ihr seht toll aus. Ich freue mich auf den Abend.“ Wir zogen unsere Mäntel an und gingen los durch die abendlichen Straßen von Amsterdam.
Zu Fuß bis zum Hotel Dylan, in dem sich das Restaurant Vinkeles befand,
brauchten wir keine Viertelstunde. Das Hotel, das aus mehreren miteinander verbundenen Grachtenhäusern besteht, zählt zu den renommiertesten, aber auch teuersten Hotels der Stadt. Das Restaurant ist nach dem Maler und Kupferstecher Reinier Vinkeles aus dem 18. Jahrhundert benannt. Der Eingang zum Hotel war ein Überbleibsel eines ehemaligen Theaters, das 1772 niedergebrannt war. Auf dem Grundstück wurde später ein Armenhaus und eine Armenküche errichtet, hierin befand sich jetzt das Restaurant.
Wir setzten uns zuerst in die Bar und bestellten eine Flasche Taittinger Champagner. Als die Bedienung uns einschenkte, sagte ich: „Wisst Ihr wann ich das letzte Mal Taittinger getrunken habe? Es war auch hier in Amsterdam. An dem Abend als ich dich, Marjet, kennengelernt habe. Damals habt ihr euch auch das erste Mal gesehen, oder? Ihr habt bei uns in der Wohnung fast die ganze Zeit miteinander gesprochen und euch nicht um die anderen Gäste gekümmert. Es war ein schöner Abend. In jedem Fall habe ich damals alle beneidet, die hier bleiben konnten. Aber jetzt bin ich zum Glück wieder da. Auf einen schönen Abend!“
Wir prosteten einander zu und die beiden begannen von ihrem Alltag zu erzählen. Es fiel mir schwer mich ablenken zu lassen und nicht an den Tag und die Zukunft zu denken. Später im Restaurant wurden wir an einen großen, alten Bauerntisch geführt, auf dem kein Tischtuch lag, der aber mit sehr schönem Besteck und edlem Geschirr eingedeckt war. Eine kleine dunkelhäutige Frau, etwas älter als ich, stellte sich uns als Cleo vor.
Nachdem wir bestellt hatten und die zweite Flache Champagner auf dem Tisch stand, wollte ich mehr über Marjet persönlich erfahren. Außerdem war ich neugierig, warum meine Schwester in keiner festen Beziehung stand.
Weil niemand in direkter Nähe bei uns saß, konnten wir offen sprechen.
„Ich muss dir das einmal in aller Ruhe erzählen, aber es gibt keine feste Beziehung in meinem Leben, obwohl ich es mir einmal sehr gewünscht habe. Es hat wohl mit Dingen zu tun, vor denen ich mich fürchte. Sieh dir an, was aus unseren Eltern und unserer Familie geworden ist. Sieh, welche Angst ich vor unserem Vater habe. Das alles war der Grund, warum ich fortgegangen bin.“ Sie schaute mich traurig an. „Aber das ist eine Geschichte, die nicht für heute Abend gedacht ist. Lass uns über fröhlichere Dinge sprechen!“
„Du hast vollkommen recht, wir sehen uns jetzt ja auch wieder öfter!“ Ich prostete den beiden Frauen zu und ließ den Champagner auf der Zunge perlen.
„Jetzt erzähle ich dir eine andere Geschichte aus meinem Leben, die auch Marjet mit einschließt Willst du sie hören, Hendrik?“ “Schieß los, Schwesterherz!“ Unsere Stimmung stieg zusehends und wir fingen an, den Abend richtig zu genießen.
„An einem Abend im Winter waren wir beide alleine in der Wohnung von Marjet. Sie hatte ihre neue Wohnung lange renoviert und immer wieder Freunde eingeladen, um zu zeigen, was sie aus der alten Druckerei in einem Hinterhof in der Bloomgracht gezaubert hatte. Die Renovierung von Wohnungen und Häusern ist nämlich ihr Hobby“, dabei lächelte sie Marjet an und fuhr fort: „Aber das ist wieder eine andere Geschichte. Eigentlich waren wir zu dritt an dem Abend verabredet, aber ein Freund von Marjet hatte abgesagt und so waren wir allein“.
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