1 ...8 9 10 12 13 14 ...22 Mir wurde heiß. Was tat meine Mutter? Damals kam mir nicht der Gedanke daran, in welche Gefahren sie sich begeben könnte.
Das Weinglas hatte ich die gesamte Zeit in meiner Hand gehalten und trank in diesem Moment den letzten Schluck aus. Am Himmel vor dem Fenster zog ein Flugzeug in großer Höhe einen weißen Kondensstreifen hinter sich her. Die Hand schwitze. Ich stellte das Glas auf den kleinen runden Betontisch. Warum spricht sie erst jetzt mit mir? Vielleicht hätte ich ihr helfen können? Warum hatte ich nicht weiter versucht den Dingen auf den Grund zu gehen? Ich erinnerte mich an das, was sie vorher gesagt hatte. Wir hatten Angst, uns nicht getraut und immer gehofft, dass eines Tages alles wieder besser wird. So ein Unsinn. So eine Feigheit.
Mutter spürte wohl, was ich dachte und sagte: „Auch ohne deinen Anruf heute Vormittag wäre ich in den nächsten Tagen zu dir gekommen und hätte dich und Holly darum gebeten, uns bei dem Gespräch mit deinem Vater zu begleiten. Es ist wichtig, dass wir jetzt beginnen uns von einigen Dingen zu distanzieren, solange er lebt. Persönlich und auch rechtlich, soweit das möglich ist. Die Geschäftsführung, die ich noch in der Verwaltungsgesellschaft habe, werde ich niederlegen.“ Sie sah mich an und nickte mir beinahe unmerklich zu. „Wir bleiben nur Gesellschafter und werden alles einem Vermögensverwalter übertragen.“
„Mama, wer ist es mit dem du das alles besprichst?“
„Hendrik, ich habe ihm versprochen seinen Namen noch nicht zu nennen. Vertraue mir. Du kennst ihn und ich denke du schätzt ihn. Er rät uns zu den Dingen. In ein paar Tagen wissen wir mehr, wahrscheinlich auch was dein Vater mit Assmann unternimmt. Viele Dinge sind ihm bekannt. Er weiß mehr als jemand sonst, der nicht dazu gehört. Ich wäre nie allein darauf gestoßen.“
Ich kämpfte mit mir und sagte: „Ich lass dich nicht eher gehen, bis du mir alles gesagt hast. Du bist meine Mutter, ich habe dir immer alles erzählt. Immer! Du stimmst mir zu, dass es besser gewesen wäre, wenn du auch mir immer alles erzählt hättest. Du hast mir nie gesagt, was zwischen Holly, dir und Vater passiert ist. Du schweigst, wenn ich dich danach frage!“ Ich wirkte wie ein trotziges Kind, das war mir klar, aber auch egal. „Du hast nie zugegeben, dass er dich geschlagen hat.“ Eigentlich hatte ich ihr nie sagen wollen, dass ich davon wusste.
„Weißt du etwa davon?“ Mutter war entsetzt.
„Ja, natürlich. Und jetzt gerade schäme ich mich, es zugelassen zu haben,
Mama!“ Das Mama klang wie ein Schrei in meinen Ohren. Wieder erfasste mich die Welle der zärtlichen Liebe zu meiner Mutter. Mir kamen die Tränen. Ich trat auf sie, zog sie zu mir hoch und als sie vor mir stand, umarmte ich sie. „Mama, ich hätte es nicht zulassen dürfen. Es tut mir so leid.“
Wir klammerten uns förmlich aneinander. Ich startete einen letzten Versuch.
„Mama, wer ist es? Ich will es wissen!“
„Es darf niemand wissen.“
„Bitte. Kannst du bei ihm sicher sein?“
„Ja, mein Junge.“
Sie kämpfte damit, den Namen des Mannes auszusprechen.
Endlich.
„Es ist Andreas Weidlich.“ Ein Lächeln umspielte ihre Lippen.
„Andreas?“, ich sah ihn vor mir.
„Andreas. Seit wann? Ich hätte doch was merken müssen? Ihr kennt euch doch schon ewig? Seit ihr etwa.. ?
„Nein!“ Mutter lachte. „Wir sind noch nicht ewig ein Paar! Aber schon eine ganze Zeit.“
„Und niemand hat es bemerkt?“
Wieder schaute ich sie ungläubig an.
„Wir sind doch als Familien miteinander befreundet! Etwa schon als Andreas Frau noch lebte? Sie hat sich doch wohl nicht deshalb das Leben genommen?“ Ich bekam plötzlich Angst vor der Antwort meiner Frage.
„Oh Gott nein, Hendrik. Wir sind erst weniger als zwei ´ Jahren zusammen und Andreas ist seit 5 Jahren Witwer. Traust du mir das etwa zu?“ Sie sah mich traurig an.
„Ach Mama, nein, aber ich weiß gerade gar nicht, was das alles bedeutet.“
„Das verstehe ich. Gib mir eine paar Tage Zeit. Ich werde noch einige Dinge regeln und vorbereiten, bevor ich deinem Vater sage, dass ich ihn verlassen werde. So mutig wie das jetzt klingt, bin ich gerade nicht, aber ich bin auf einem guten Weg und dann wird sich auch alles für dich ändern können.“
„Was willst du konkret tun?“
„Auf jeden Fall nichts überstürzen. Nichts tun, was ich hinterher bereuen werde. Es sind so viele Schritte zu überlegen, aber Andreas und ich haben einen Plan. Und Hendrik, ich fühle mich gut dabei, Andreas macht mich glücklich und gibt mir die nötige Kraft. Dieses Gefühl habe ich lange nicht gespürt.“
„Versprich mir, dass du Vater verlässt, und zwar innerhalb der nächsten Tage. Hörst du, Mama, versprich mir das!“
„Ja, ich verspreche es, mein Junge. Und was wirst du jetzt tun?“
„Nach Amsterdam gehen! Zu Holly. Das war mein Plan heute früh. Da wusste ich aber noch nichts von deiner Geständnis.“
„Hendrik, es stimmt, wir beide sollten anfangen unseren Träumen zu folgen.“
Wenn wir in diesem Moment gewusst hätten, was in den nächsten Tagen geschieht, wären wir nicht so voller Hoffnung gewesen!
KAPITEL 4 - Zurück in Amsterdam
Eine Stunde nachdem meine Mutter gegangen war, hatte ich zwei Reisetaschen gepackt und saß in meinem Wagen auf dem Weg nach Amsterdam. Weil ich selber einen Schlüssel für die Wohnung in Amsterdam hatte, machte ich mir keine Mühe noch einmal meine Schwester Holly anzurufen. So konnte ich sie überraschen. Ich freute mich auf ihr erstauntes Gesicht. Nach zweieinhalb Stunden stand ich vor der Wohnungstür in Amsterdam. Den Wagen hatte ich in einem privaten Parkaus geparkt, die anstatt der üblichen 38 Euro nur 28 pro Tag für das Unterstellen verlangten. Den Schlüssel für den Wagen musste ich dort lassen, weil die Fahrzeuge in der umfunktionierten ehemaligen Autowerkstatt dicht verschachtelt eingeparkt wurden. Man musste sich am besten eine halbe Stunde vorher melden, bevor man seinen Wagen wieder abholen wollte. Ich nahm erst einmal nur meine Tasche mit Macbook und iPad und eine der beiden Reisetaschen mit, die ich gepackt hatte. Vom Parkhaus waren es fünf Minuten zu Fuß auf der gegenüber liegenden Seite der Prinsengracht.
Auf der Fahrt hierher hatte ich über die Worte meiner Mutter nachgedacht. Voller Hoffnung freute ich mich darüber, welche positive Wendung alles nehmen könnte. Es ist schwer den Vater als Feind im eigenen Leben zu bezeichnen. Aber er ist zu meinem Feind geworden. Niemand kann sich vorstellen, wie es sich anfühlt, den Vater töten zu wollen. Vieles bleibt hinter den Erfahrungen anderer Menschen weit zurück. Zum Glück.
Ich schellte an der Tür, nichts regte sich, ich nahm meinen Schlüssel, ging hinein und fuhr mit dem nachträglich in das alte Haus aus dem 17. Jahrhundert eingebauten hydraulischen Aufzug in die dritte Etage. Das letzte Mal bin ich Silvester in der Wohnung gewesen. In den vergangenen neun Monaten hatte meine Schwester nichts verändert. Es war alles so, wie ich es eingerichtet hatte. Ich stand sofort in dem großen Wohnraum, eine abgeschlossene Diele gab es nicht. Die Wohnung erstreckt sich über die gesamte dritte und vierte Etage sowie das Dachgeschoss des alten Grachtenhauses. Über eine interne steile Treppe erreicht man von der dritten Etage mit Wohnraum, Essbereich, Küche, Gästetoilette und kleinen Lagerraum die vierte Etage mit zwei Schlaf- und Arbeitszimmern und einem großen Bad. Im Dachgeschoss hatte ich alle Wände rausnehmen lassen und meinen Schlaf- und Arbeitsraum mit Bad über die gesamte Grundfläche und den Spitzbogen ausgebaut. Von hier kam ich auf eine kleine Terrasse auf der Rückseite des Hauses zu den Innenhöfen mit Blick über die Dächer im Grachtengürtel. Hier hatte ich mich damals eingerichtet, mein kleiner Schreibtisch stand dort, es gab einen Apple Monitor und einige Bücher, die ich nicht mitgenommen hatte. Alles sah so aus wie ich es verlassen hatte. Es erleichterte mich, wieder hier zu sein.
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