Nicht viele Menschen wussten wie es im Inneren dieser attraktiven und sympathischen Frau aussah. Sie wollte immer für uns da sei und dafür Sorge tragen, dass wir eine glückliche Familie sind. Dafür lebte, nein, kämpfte sie. Diesen Kampf verlor sie jeden Tag. Unser Vater machte ihr das unmöglich. Ihre Herzlichkeit und liebevolle Fürsorge ging in seinem Egoismus und Herrschaftsanspruch verloren. Keine Liebe der Welt besteht gegen die Angst. Das Gegenteil von Liebe ist Angst, nicht Hass. Wer Angst hat, verlernt zu lieben. Mutter hat sich immer nach Liebe für uns alle gesehnt. Wir alle sehnen uns nach Liebe und hofften, dass es richtig ist, danach in unserer eigenen Familie zu suchen. Sie hat am längsten dafür gekämpft. Wir anderen hatten längst aufgeben. Ich zog jetzt die Konsequenz. Im Gegensatz zu mir, würde Mutter daran zerbrechen können. Nur der Mut der Verzweiflung könnte sie von der irrigen Hoffnung auf Liebe befreien.
Mutter lebt für die Verbundenheit, Harmonie und Liebe, aber auch dafür sich für die Familie aufzuopfern. Es lässt sich nicht beschreiben, welche Grenzen überschritten werden, wenn jemand bereit ist, alles für die Familie zu tun. Dieses Opfer erinnert an die Aufopferung für die Sünden anderer.
Als es an der Einfahrt zu Tiefgarage schellte, nahm ich mein iPad und öffnete die Mitteilung der Überwachungskamera. Sie hatte das Fenster ihres alten roten Jeep Wrangler komplett geöffnet und lächelte in die Kamera.
„Hallo, schönste der Mütter“, sagte ich. Sie konnte mich nur hören, nicht sehen.
„Ach, du immer. Mach auf mein lieber Junge.“
Ich wusste, dass sie in diesem Moment unruhig und ängstlich war. Sie nahm alles in sich auf, was heute geschehen war und machte sich große Sorgen. Ihre Gedanken, die sie nicht los ließen und der Versuch, alles zu antizipieren, was zukünftig geschehen könnte, rieb sie auf. Sie häufte in sich die Sorgen und Probleme der erwachsenen Kinder und ihre eigenen Ängste. So war meine Mutter. Charlotte sah, was mit uns geschah und wiegte sich in der Hoffnung auf ein anderes Leben. Sie zeigte das nie, aber verbergen konnte sie es auch nicht. Ihre Tochter hatte die Familie verlassen. Ich würde jetzt auch gehen und sie blieb allein zurück.
„Hallo Mama“, begrüsste ich sie und half ihr aus dem hellblauen Burberry Mantel. Ich nahm sie in den Arm und hielt sie etwas länger als üblich fest. Ihr Kopf lag auf meiner Brust und sie legte ihre Arme um meine Taille: „Hendrik, ich habe solche Angst.“ Sie löste die Umarmung und sah mich an. Tränen schimmerten in ihren Augen. Mich erfasste eine Woge der Liebe zu ihr. Es war schmerzhaft sie leiden zu sehen.
„Komm erst einmal und setzt dich, Mama. Möchtest du etwas trinken? Ich habe einen guten Wein, oder möchtest du lieber einen Kaffee oder einen Tee?“
„Ich nehme gerne ein Glas Wein, der ist jetzt besser als ein Kaffee.“
Mit einer neuen Flasche in der einen und dem Korkenzieher in der anderen Hand sah ich meine Mutter an, die sich vor eines der Fenster in der Küche gestellt hatte an. Sie sah nach draußen, von mir abgewandt und hielt ein weißes Spitzentaschentuch fest umklammert.
Sie hatte mich immer sehr stolz gemacht. Als ich zur Schule ging, war sie eine der wenigen Mütter, nach der sich die Oberstufenschüler umgedreht hatten. Zumindest hatte ich es so empfunden. Wir beide hatten oft darüber gelacht, wenn wir über die Zeit damals sprachen. Sie ist eine schöne Frau, heute noch. Ihr makelloser Teint und das dezente Makeup ließen sie jünger aussehen. Sie trug strahlend weiße Turnschuhe mit den drei Steifen, eine blaue Jeans, eine dünne rote Strickjacke über einer ebenfalls weißen Bluse. Ein blauer Schal mit weißen Ornamenten machten das Outfit perfekt. Alles wirkte äußerlich schön für all diejenigen, die nur von Außen auf uns schauten. Unsere Familie, eine schöne Hülle.
In Mutters Augen nahm ich ihre Depression wahr. Sie war bekümmert, ich kannte diese Augen voller Traurigkeit. Meine Schuld. Sie hatte heute vermutlich schon viele Tränen vergossen. Ich trat zu ihr und legte fürsorglich den Arm um ihre Schultern.
In den vergangenen Jahren hatte ich die intensivste Beziehung von allen Familienmitgliedern zu ihr. Wenn ich heute darüber nachdenke, war ich der Einzige, der damals eine liebevolle und verständnisvolle Beziehung zu ihr hatte. Meine Schwester, auf ich ich eigentlich immer mit Stolz schaute, hatte sich nicht nur von Vater und mir, sondern auch von unserer Mutter zurückgezogen. Wie schlimm musste das alles für Mutter sein? Wieder spürte ich diese große und schmerzhaft Liebe zu ihr, auch weil ich genau wusste, dass ich ihr noch mehr Leid zufügen würde. Aber ich musste jetzt an mich und meine Zukunft denken. Momentan war das Leben mit meinem Vater unweigerlich an das Leben mit meiner Mutter gekoppelt. Ich würde sie auch verlassen. Gab es eine andere Möglichkeit?
Wir setzten uns in den Cocktailbereich vom Loft, in die zwei schwarzen, drehbaren Sessel aus Leder. Zur Mittagszeit wanderte die Sonne, so dass sie anfing durch die großen Fenster auf den Holzfussboden aus breiten Eichendielen zu scheinen. Die farbigen Ölgemälde, hauptsächlich von Nachwuchskünstlern aus der Region und Studenten der Kunsthochschule in Düsseldorf, ließen den Wohnraum wie eine Galerie wirken, da das Licht den Raum noch größer erscheinen ließ. Die beiden extra großen grauen Zweiersofas mit vielen farbigen Kissen vor den Fenstern sorgten für Gemütlichkeit in diesem Raum. Die beiden Sessel, in denen wir saßen, standen vor einem der Fenster zwischen dem Essbereich und den beiden Sofas mit einem langen Sideboard und dem großen Flachbildschirm.
Meine Mutter sagte nichts, während ich mit der Flasche hantierte. Sie sah hinaus in den blauen Himmel, an dem helle Wolken langsam von Westen über die Stadt hinweg zogen. Als ich mich mit zwei Gläsern und der offenen Flasche neben meine Mutter gesetzt und uns beiden Wein eingeschenkt hatte, fragte ich: „Woran denkst du?“
„Ich habe Angst vor dem, was gerade mit dir passiert. Mir ist klar, was in dir abläuft. Ich bin deine Mutter. Du willst weg von allem, von deinem Vater, der Firma und aus Düsseldorf. Und auch von mir! Ist es so?“
„Nicht ganz so Mama. Ich will eigentlich nur weg von meinem Vater, aber das lässt sich nicht von der Firma oder Düsseldorf trennen. Es ist nicht so, dass ich weg will von hier oder der Firma. Das ist eigentlich mein Zuhause, meine Heimat. Aber Vater hat das alles zu dem gemacht, was ich mittlerweile am meisten hasse und wovor ich die meiste Angst habe, wenn ich an meine Zukunft denke. Fast alles, meine Arbeit, Geschäftspartner, die Jagd, Golfen, Clubs, die Feste in eurem Haus hier und auf Sylt, alles ist von Ihm."
Ich zeigte auf einen der Müllsäcke, der in der Tür zum Schlafbereich lag. „Da in dem Müllsack sind meine Krawatten. Seinetwegen habe ich dutzende Krawatten, die ich tragen musste. Ich hasse Krawatten! Er hat damals bestimmt, was und wo ich studiere. Denke bitte an Saskia und was er damals gemacht hat, damit wir zusammen kamen. Kannst du dir vorstellen wie ich mich fühlte? Es gibt mich eigentlich nicht. Es gibt nur den Hendrik, den Vater aus mir gemacht hat. Meine Persönlichkeit war ihm schon lange egal. Ich meine, ich hätte gerne meine Träume gehabt und ein bisschen mein Leben gelebt.“ Es fiel mir schwer weiterzusprechen. Meine negativen Gefühle nahmen von mir Besitz und ich fragte mich zum wiederholten Mal an diesem Tag, warum ich so lange gefügiges Werkzeug in den Händen meines Vaters gewesen bin? Bin ich zu schwach mich ihm zu widersetzen? Habe ich mich an seine Manipulationen gewöhnt? Wollte ich sie nicht erkennen und bin deshalb den Weg ohne großen Widerstand gegangen? Oder wollte ich meine Mutter nicht enttäuschen? Mit der Beantwortung dieser Fragen musste ich mich bald auseinandersetzen, um zu meinem inneren Frieden zu gelangen. Aber in diesem Monat war mir wichtig, dass Mama mich verstand.
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