Ich ließ meine Taschen oben stehen und ging die steile Holztreppe wieder nach unten, um mir einen Drink zu nehmen. Die Wohnetage war auch aus mehreren Räumen entstanden, nachdem man die ursprünglichen Wände weggerissen hatte. Gegenüber der Treppe lag zwischen dem Wohnbereich, der zur Gracht ging und dem Essbereich zu den Innenhöfen und Gärten, eine lange offene Küchenzeile. Die drei großen Fenster im Wohnbereich gingen hinaus auf die Prinsengracht. Vor den Fenstern zur Gracht gab es eine weiße Holzfensterbank über die Breite des gesamten Raums unter der sich Heizkörper befanden, die weiß verkleidet waren. Der Raum war fast fünf Meter hoch und die Fenster reichten bis unter die Decke, die von schweren Holzbalken getragen wurde. Es war kalt in der Wohnung. Die Fenster der denkmalgeschützten Fassade waren aus Einfachglas und nicht dicht. Im Kühlschrank stand eine ungeöffnete Flasche Pastis und mehrere Flaschen Weißwein. Ich mixte mir den Pastis mit wenig Wasser und viel Eis. Ich fühlte mich zuhause. Eine gute Entscheidung hierher zurück zu kommen. Zurücklassen würde ich nichts. Das Gespräch mit Mutter hatte mich aufgewühlt. Aber es geschah etwas, und ich war nicht allein damit.
Draußen wurde es dunkel. Die Laternen spiegelten sich im Wasser der Gracht. Zwei der Fenster auf dem neuen Hausboot auf der anderen Seite der Gracht waren beleuchtet. Das neue Hausboot war einem alten Plattbodenschiff gewichen und glich einem modernen Bungalow, nur das dieser schwimmen konnte. Über die Brücke der Reguliersgracht fuhren mehrere Radfahrer. Von der anderen Seite der Brücke kam in diesem Moment ein Fahrgastschiff. Ich sah die Lichter, die den Innenraum beleuchteten, es waren nur wenige Plätze besetzt. Es hatte angefangen zu regnen. In der Gracht erzeugten die Regentropfen kleine Blasen. Ein Radfahrer auf der gegenüberliegenden Seite und eine Gruppe von zwei Fußgängern beeilten sich, um ins Trockene zu kommen. Ein offenes Boot mit jungen Leuten fuhr vorbei, jemand hatten einen Sonnenschirm von Heineken aufgespannt. Unter einem Heineken Sonnenschirm auf dem Boot, das aussah wie ein altes Rettungsschiff, saßen zwei junge Männer mit Bierdosen in der Hand. Der Mann am Ruder trug eine rote Regenjacke, seine langen Haare hingen nass über den Kragen. Der Regen schien sie nicht zu stören. Jeder, der hier lebt weiß, dass es zehn Mal am Tag aufhören kann zu regnen und in den Pausen dazwischen scheint schnell die Sonne oder nachts ist es sternenklar zwischen den Schauern. Alle, die hier zu Besuch sind, gewöhnen sich daran beim Regen in eine Bar zu gehen und sobald es aufhört, sich gleich wieder auf die Straße zu setzen. Hier in Amsterdam hatte ich gelernt, das Beste aus allem zu machen.
Ich versuchte meine Schwester anzurufen, dann hörte das Klingeln und Vibrieren eines Telefons von der Küchenzeile. Ich ging hinüber und sah ein iPhone auf dem Regal oberhalb der Arbeitsplatte aus ausgeblichenem Teakholz neben einem Kochbuch liegen. In Gedanken sah ich Holly, wie sie die Wohnung in Hektik verlassen, in letzter Sekunde wenigsten den Schlüssel mitgenommen hatte und sich unten auf der Gracht auf ihr Fahrrad setzte, um rasch an einen anderen Ort zu kommen.
Ich schüttete mir Pastis 51 nach, brachte die Flasche zurück in den Kühlschrank, ging wieder in den Wohnraum und stellte mich an das Fenster mit Blick auf die Gracht. Der Anblick beruhigte mich. Die letzten Tage hier, bevor ich vor zwei Jahren nach Düsseldorf zurück gegangen bin, hatten mich sehr aufgewühlt. Damals hatte ich Angst, jetzt nicht mehr. Ich wollte nicht zurück nach Deutschland. Hier in Amsterdam hatte ich mit meinem Team die Finanzholding und die ersten Investments in der Blockchaintechnologie aufgebaut und viel für die Reputation der alten Unternehmen unserer Familie, vor allem in Asien, erreicht. Von hier hatte ich die produzierenden Standorte der Unternehmensgruppe betreut, neue Technologien eingeführt und viel Anerkennung im Management dafür bekommen. Einige der Führungskräfte in den Tochtergesellschaften brachten mir das Vertrauen entgegen, was mein Vater sich weigerte mir zu geben. Die Anordnungen meines Vaters waren während meiner Zeit in Amsterdam bei Führungskräften immer mehr in Frage gestellt worden. Viele seiner vermeintlichen Fehlentscheidungen hatten für Diskussionen in der gesamten Gruppe geführt. Als das immer offensichtlicher wurde, holte mein Vater mich zurück nach Deutschland in die Zentrale. Offizieller Grund war die Vorbereitung des Generationswechsels. Tatsächlich benötigte mein alter Herr jemanden hinter sich, der grobe Fehler richten konnte. Mein Organisationstalent schätzen viele unserer Führungskräfte. Meine Begabung in komplexen Verträgen mögliche Risiken zu erkennen und endsprechende Formulierungen zur Absicherung zu finden und dies in Verhandlungen durchsetzen zu können, hatte ich oft bewiesen. Mein Vater war zu ungeduldig.
Ich war damals in der Muttergesellschaft und einigen Beteiligungen zum Feuerwehrmann von Bränden geworden, dessen Verursacher mein Vater und seine engsten Mitarbeiter waren. Einer der älteren Mitarbeiter hatte einmal lachend zu mir gesagt: „Ohne dich wäre dein Vater schon bettelarm. Deinem Vater geht es nur um sich und nicht mehr um die Firma. Ohne dich, Hendrik, würde es zu einer Katastrophe kommen.“ Ich hatte ihm damals geantwortet: „Mein Vater hat Angst davor alt zu werden und keine Bedeutung mehr zu haben. Das Schlimme ist, ich konnte ihm bis jetzt in der Sache helfen, aber das eigentliche Problem nicht lösen. Er will nicht aufhören. Und wahrscheinlich braucht er eine Krise, um zur Vernunft zu kommen. Kein Wandel ohne Krisen.“
Die seit vielen Jahren im Unternehmen arbeitenden Mitarbeiter setzten ihre Hoffnungen auf mich als Nachfolger, als ich wieder zurück kam.
Mein Blick nach draußen auf die Gracht ließ die vielen schönen Erinnerungen an das Leben hier zurückkommen. Von den geöffneten Fenstern aus hatten wir im Sommer vor drei Jahren stundenlang beim Roze Zaterdag, der holländischen Version der Gay Pride auf der Gracht zugesehen und die Vielfalt des Lebens mitgefeiert. Die Stimmung war ausgelassen, trotzig und ansteckend zugleich. In Amsterdam hatte ich meine Arbeit mit der größten Begeisterung gemacht, konnte Ideen umsetzen, hatte ein perfektes Team und niemanden mit einer bevormundenden Fürsorge um mich. Ich hätte nie gehen dürfen. Die Zeit in Deutschland, so eng zusammen mit meinem Vater und seiner Art die Dinge zu tun, hatten mich verändert. Wie bei einer Krankheit, kann es zu spät sein, wenn man nichts bemerkt. Es war leichter sich anzupassen. Der Komfort bestand darin zu akzeptieren, was man bedenklich fand oder vor dem man früher sogar Angst hatte. Man gewöhnt sich an Beschwerden und dann wird es normal. Es kommen immer weitere Symptome dazu. Am Ende ist man so krank wie andere, deren Krankheit man früher als bedrohlich empfand.
Mich hatte alles müde gemacht, es war soviel passiert.
Ich nahm einen letzten Schluck Pastis, das Eis hatte sich aufgelöst. Die Müdigkeit machte sich in meinem ganzen Körper bemerkbar. Das Gespräch mit meiner Mutter hatte alles noch intensiver in Bewegung gebrach als vorher der Moment im Wald, das ausgerichtete Gewehr und das Telefonat mit meinem Vater.
Es war so ruhig hier in der Wohnung. Nur vereinzelt waren Motorengeräusche, Fahrradklingeln oder laut sprechende Passanten zu hören. An der Wand hinter dem Esstisch, der aus einem alten Seitenschwert eines Plattbodenschiffes bestand, das auf einem rostigen Stahlgestell lag, hingen ein dutzend großformatiger Schwarzweißfotos in dunklen Metallrahmen und ein Bild von Piet Mondrian. Damals, in den ersten Wochen nach meinem Einzug war ich mehrmals mit dem Auto nördlich von Amsterdam unterwegs gewesen, um Nordholland kennen zu lernen. Die Landschaft der Polder, die Deiche und die Atmosphäre am Wattenmeer, eine gute Stunde von hier, haben mich begeistert. Viele Menschen können es nicht nachempfinden, aber gerade die künstliche Landschaft der Kanäle und Polder, wie am Zeichentisch entworfen, die gerade und rechtwinkelig verlaufenden Kanäle und Landstraßen ordnen etwas und schaffen Struktur im Kopf, im Denken und Empfinden. Einer der Gründer der niederländischen De Stijl Gruppe der Architekt Jacobus Johannes Pieter Out hatte 1916 zu dieser Landschaft gesagt, dass sie ihn inspirieren würde. Er schrieb: „…das macht mich so frei hier um klar denken zu können, mich von dem traditionellen abzuwenden und für mich völlig neue Dinge entwicklen zu können.“ Ich hatte damals mehrere großformatige Kalender mit Fotos dieser Landschaft gekauft und die schönsten Fotos eingerahmt und aufgehängt. Es war noch alles da, die Bilder und die Erinnerungen.
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