Wir hörten den Wind, der den Regen an der Fassade entlang trieb. „Was passiert da gerade?“
Holly fuhr fort: „Was er da sagte, zog mir den Boden unter den Füßen weg. Ich weiß, dass ich Mama allein gelassen habe. Aber stimmt es, dass sie deshalb so unglücklich ist? Bin ich für ihr Unglück verantwortlich?“
„Nein Holly, das stimmt nicht. Assmann und Vater tun alles, um an deine Anteile zu kommen. Ich weiß auch warum. Ohne dich im Aufsichtsrat der Holding hätte er die Chance mich mit der Stimme von Mutter auszubooten.“
Holly ging nicht auf das ein, was ich gesagt hatte und fuhr fort: „Ich habe Assmann erwidert, er soll mich in Ruhe lassen und Vater ausrichten, dass es mit mir nur Gespräche gemeinsam mit Mutter und dir gibt. Dann habe ich aufgelegt und überlegt dich und Mama anzurufen.“
„Und warum hast du nicht getan?“
„Ehrlich gesagt, weil ich nicht erklären kann, warum ich euch vorher nichts erzählt habe. Ich habe mich beschissen verhalten, ich schäme mich. Außerdem war ich mir nicht mehr sicher wie du und Vater zueinander steht. Du hast seit Monaten nichts mehr über euer Verhältnis gesagt. Du hast immer seltener angerufen. Vielleicht interessierte dich nur noch der Job. Ich hatte ehrlich gesagt Angst du wirst so wie er….“
„Du hast gedacht ich werde wie er?“, fragte ich empört: „Du hast geglaubt ich wäre auf Vaters und Assmanns Wellenlinie?“ Mein Entsetzen war echt. „Du hast ernsthaft vermutet, ich wusste von dem Anruf und von Assmanns Anliegen, dich zu besuchen, um dir irgendwelche dubiosen Unterlagen zur Unterschrift vorzulegen?“ Ich schaute Holly direkt ins Gesicht und wartete auf ihre Antwort.
„Ja, so ähnlich. Jetzt bist du sauer und enttäuscht?“ Sie sah mich an.
Mir war plötzlich kalt. Kannten wir einander so wenig, um so zu denken? Oder waren wir schon neurotisch ängstlich. Wir vertrauten einander nicht mehr.
„Um so glücklicher war ich über deine Handybilder der Aufräumaktion und deine Entscheidung.“ Sie lächelte mich an. „Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie froh und glücklich ich war als du uns dann vorhin erzählt hast, was mit dir los ist und auf wessen Seite du stehst!“ Holly legte kurz ihren Kopf an die kühle Fensterscheibe. „Was du in meinem Gesicht gesehen hast, war mein schlechtes Gewissen. Wie konnte ich bloß denken, du steckst hinter irgend etwas von dem, was Vater und Assmann vorhaben. Es tut mir wirklich leid. Du bist jetzt böse auf mich und enttäuscht?“ Sie drehte sich zu mir um und sah mich beinahe flehend an.
„Nein, du tust mir leid. Wir denken zu schnell schlecht übereinander, anstatt zu verstehen, was mit uns passiert ist. Holly, wir lieben und vertrauen uns doch.“ Jetzt sah ich sie beinahe flehend an.
Ich stand auf, trat zu ihr ans Fenster, zog sie zu mir und nahm sie in den Arm. Langsam gingen wir zur Couch und setzten uns erleichtert hin.
„Warum bist du damals gegangen?“
„Es wurde zuhause für mich unerträglich. Ich weiß nicht, ob du alles weißt und mich verstehst Hendrik?“
Sie machte eine lange Pause, ich traute mich nicht, sie zum Weiterreden aufzufordern, obwohl meine Ungeduld wuchs. Vom anderen Ende der Couch sah sie mich an und sagte: „Unser Vater hat Mutter geschlagen, das weißt du doch! Aber es gab noch Schlimmeres als das.“ Holly schluckte vernehmlich, das Sprechen fiel ihr schwer. „Ich habe mitbekommen, wie er sie zu Sex gezwungen hat. Sie dachten, ich wäre nicht zuhause, aber ich war in meinem Zimmer und nicht bei einer Freundin. Mama hat geschrien, es war grausam. Er schlug sie immer wieder und beschimpfte sie mit schlimmen Worten. Ich ging in ihr Schlafzimmer und sah entsetzt, dass er sie fest gebunden hatte. Ich war geschockt, dann schrie ich.
Vater drehte sich um, brüllte ich solle verschwinden. Mama schrie und bat mich das Zimmer zu verlassen. Ich rannte in mein Zimmer, packte eine Tasche und verließ das Haus.
Als ich hier in Amsterdam ankam, habe ich dir nichts davon erzählt. Mutter versuchte mich andauernd anzurufen. Sie hatte keine Ahnung wo ich mich aufhielt. Schließlich rief ich sie zurück. Ich ließ sie nicht zu Wort kommen, sagte nur: „Vater ist gewalttätig und vergewaltigt dich. Wenn du nicht zur Polizei gehst, werde ich nicht weiter mit euch unter einem Dach leben.“
Holly wechselt ihren Ton. Sie klang als würde sie zu einem Kampf aufrufen: „Kannst du dir vorstellen, Mama versuchte alles was ich gesehen hatte als nicht so dramatisch abzutun und sagte: „Es ist nicht so schlimm wie du denkst.“
„Das hat sie so gesagt?“ Ich klang erstaunt und ungläubig.
„Ja, genau so. Sie schwächte alles ab und am Ende nahm sie mir das Versprechen ab, mit niemandem darüber zu reden.“
Ich sah Holly entsetzt an, stand auf und holte mir eine angefangene Flasche Hendrix Gin aus dem Barschrank vor der Küchenzeile. Mit der Flache und zwei Gläsern setze ich mich auf einen der beiden Cocktailsessel aus schwarzem Leder Holly gegenüber. „Möchtest du auch einen Schluck? Ich muss jetzt etwas trinken.“
„Nein, lass mal, für mich nicht.“
Nachdem ich mir eingeschenkt und sofort einen großen Zug genommen hatte, fragte ich: „Weil du wusstest, es würde nicht aufhören und Mama würde es weiter zulassen, bist du gegangen?“
„Es war feige, ich weiß. Ich hätte wenigstens mit dir sprechen sollen.“ Holly klang kleinlaut.
„Hör auf dich für etwas schuldig zu fühlen.“
„Alles fühlte sich nicht mehr wie Familie an. Anstatt einen Platz zu haben, der Schutz und Liebe bedeutet, gab es Zerstörung und Angst. Schließlich habe ich beide dafür gehasst, was sie mir damit angetan haben.“
Sie nahm eines der Kissen, die neben ihr lagen und verbarg das Gesicht darin. Sie weinte laut und hemmungslos.
Ich war unfähig etwas zu sagen, und sah das Bild meiner Eltern vor mir. Sich dagegen zu wehren, indem sie ging, war eine Sache, es vergessen zu können, eine andere. Ich hatte nicht nur Mitleid mit meiner Mutter, sondern auch mit Holly. Ich hatte beide nicht beschützen können! Daran würde ich lange zu knacken haben.
Wir saßen noch lange und redeten. Holly sprach wieder ruhig und gefasst über die Zeit nach ihrer Entdeckung. In Vaters Nähe hatte sie Angst. Sie wollte nicht mehr die Gewalt erleben und zusehen wie Mutter es ertrug, ohne sich zu wehren. Mutters Schweigen war für Holly fast noch schlimmer als Vaters Vergehen an unserer Mutter. Jetzt verstand ich auch, warum Mutter lange keinen Kontakt zu Holly aufgenommen hatte.
Die Angst vor unserem Vater und die Angst davor, dass sie mit mir darüber sprechen müsste, war erdrückend gewesen. Sie nutzte jede Gelegenheit, um das Thema `Eltern´ zu wechseln, wenn wir beide auf Zuhause zu sprechen kamen. Ich erinnerte mich an diese Zeit und verstand jetzt einige Dinge.
Sie erzählte mir über ihre Versuche alles zu verdrängen, das gelang ihr aber nie. Dann sprach sie von einem Freund, den sie damals hatte und ich sagte: „Ja, ich erinnere mich an Oliver, diesen großen Blonden mit dem Cross-Motorrad. Ihr ward Monate zusammen. Er war dein erster fester Freund oder?“
„Ja, das war er. Er war auch der erste Mann mit dem ich Zärtlichkeiten erlebt habe. Es war am Anfang sehr schwer, wenn er mich berührte, aber er war einfühlsam. Trotzdem hat es nicht funktioniert. Ich habe erst vor kurzem angefangen, mich mit meinem Trauma zu beschäftigen und es aufzuarbeiten.“
Wir redeten noch die halbe Nacht bis sie vor Müdigkeit nicht mehr sprechen konnte und schlafen ging. Der Wind wurde stärker und war oben in meiner Mansarde lauter als in der Wohnung unten. Ich hatte die Vorgänge zu gezogen. Es gab kein Licht von den Laternen in den Höfen und Gärten der Nachbarhäuser. Obwohl es dunkel war, lag ich lange ich wach. Die Bilder in meinem Kopf verschwanden nicht. Ihre Wut auf meine Eltern beunruhigte mich. Ich fühlte, sie hatte mir nicht alles erzählt. Meine Sorge war berechtigt. Aus ihrer Wut war ein Kampf gegen Vater geworden, der zu einer Tragödie für alle wurde.
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