„Also gut, aber beschwer dich hinterher nicht, wenn ich dich langweile.“ Er stupste sie neckend in die Seite. „Richtig schlimm wurde es nämlich, als ich merkte, dass mein Vater mich ernsthaft mit dir verkuppeln wollte. Am liebsten hätte ich daraufhin Lämmerbach seinem Schicksal überlassen. Doch dann war da die Drogen-Geschichte mit deinem Bruder. Du wirktest einerseits hilflos und andererseits unheimlich tapfer. Das hat mich völlig irritiert und mein Bild von dir etwas ins Wanken gebracht. Ich spürte zumindest, dass ich hier gebraucht werde, ob ich es wollte oder nicht.“ Er machte wieder eine Pause und Paula überlegte, welche ihrer vielen unangenehmen Begegnungen denn nun an die Reihe käme, denn vom Happy End waren sie noch meilenweit entfernt, das war sonnenklar. Er ließ sie nicht lange im Zweifel darüber.
„Und dann kam deine Freundin Julia und dieser blödsinnige Schlittenwettbewerb. Ich weiß auch nicht, was mich an diesem Tag geritten hat, aber ich war sauer und du kamst mir dabei in die Quere. Es tut mir leid, dass du den Ärger aushalten musstest, den eigentlich die anderen verdient hatten. Ich verspreche dir, dass nichts von dem, was ich über dich gesagt habe, so gemeint war. Im Gegenteil, du hast mir mit deinem Mut sogar imponiert.“
Für Paula heilte damit im Nachhinein eine Wunde, die sie viele Monate lang mit sich herumgeschleppt hatte. „Danke“ sagte sie deshalb schlicht. Daniel schaute sie verwundert an, fuhr aber ohne eine Rückfrage fort. „Als du mich nach meinem missglückten Entschuldigungsversuch an diesem Abend mitten auf der Straße stehen hast lassen, war ich zuerst völlig verdattert. So etwas war mir noch nie zuvor im Leben passiert. Nachdem ich mich allerdings etwas von meinem Schock erholt hatte, wurde ich wütend. Ich redete mir ein, du wärst arrogant und besserwisserisch. Das gab mir die Berechtigung, mich dir gegenüber wie ein Arschloch aufzuführen. Außerdem konnte ich damit Anne ärgern.
Der Tod meines Vaters hat mich dann vollends von der Rolle gebracht. Irgendwie hatte ich bei allen vorhandenen Vorzeichen nicht damit gerechnet, dass er sterben könnte. Ich stand somit vor echten Schwierigkeiten. Ich hätte am liebsten Lämmerbach und all seine Probleme für immer hinter mir gelassen, aber ich konnte es nicht. Egal wo ich auch war, ein Teil meines Ichs kam einfach nicht von hier los, so sehr ich mich auch dagegen wehrte. Und was noch schlimmer war, die meisten Frauen in meinem Bekanntenkreis ödeten mich inzwischen an. Frauen, die ich vor kurzem noch aufregend und attraktiv gefunden hatte, waren mir plötzlich völlig gleichgültig. Ich machte mir ernsthafte Sorgen um meinen Zustand.“
Diese Stelle in seinem Bericht mochte sie besonders. Hieß das etwa, dass er schon seit einiger Zeit keine intime Freundin mehr gehabt hatte? Das klang fast zu schön, um wahr zu sein.
Es gab nun erneut eine kurze Pause, die Daniel dazu nutzte, seine Begleiterin ausgiebig zu betrachten. Was sah er dabei in ihr? Etwas, von dem sie selbst vielleicht gar keine Ahnung hatte? Sie hoffte zumindest, dass er mehr als eine unscheinbare, junge Frau entdeckte, die sich nach Zärtlichkeit und Verständnis sehnte.
„Zu diesem Zeitpunkt war ich übrigens fest davon überzeugt, dass du mich hasst oder zumindest verachtest.“
Paula erschrak. Wie kam er denn darauf? Hatte sie etwa so auf ihn gewirkt? Das war ja schrecklich. „Ich habe dich niemals gehasst. Ich war nur die meiste Zeit unsicher, wie ich mich dir gegenüber verhalten sollte. Du hast dich ständig über mich lustig gemacht und manchmal warst du auch mit Absicht verletzend“, versuchte sie zu erklären, merkte dann aber, dass das nur eine Seite der Geschichte war und sie ehrlichkeitshalber auch die andere Seite erzählen sollte. Sie gab sich also einen Ruck und bekannte: „Ich war damals schon in dich verliebt, wollte mir das aber nicht eingestehen und dachte, es wäre ohnehin hoffnungslos.“
Statt einer Antwort legte Daniel den Arm um sie und zog sie an sich. Mit deutlich mehr Nähe führte er seine Geschichte nun fort. „Christines Fehlgeburt und die ganze Situation drum herum hat mich ziemlich geschockt. Ich spürte, dass ich mich meiner Verantwortung stellen musste. Und dann warst du plötzlich am Tag danach verschwunden. Ich machte mir natürlich Sorgen, so wie alle anderen Lämmerbacher auch. Ein derartiger Hagelsturm ist kein Pappenstil und du wärst nicht die Erste gewesen, die eine solche Wettersituation falsch eingeschätzt hätte. Als Anne mir jedoch unterstellte, dass bei mir mehr dranwäre, wollte ich das nicht wahrhaben. Ich ärgerte mich. Dummerweise hatte ich gleichzeitig den Eindruck, dir gegenüber etwas gut machen zu müssen. Schließlich war ich in den vergangenen Monaten ziemlich ekelhaft gewesen. Deshalb kämpfte ich mich also mit Vollmers Hund durch Matsch und Kälte, rechnete bereits mit dem Schlimmsten und wurde hier oben von der besagten Auserkorenen körperlich intakt und nicht sonderlich freudig empfangen. Irgendwie hast du den Eindruck gemacht, als würdest du lieber von jemand anderem gerettet werden. Das glich in ungefähr einer kalten Dusche. Ich stellte mir die Sache mit dem Schlafsack deshalb als kleinen Racheakt vor. Natürlich hätte ich für mehr Holz sorgen oder dir meinen Schlafsack allein überlassen können. Das hatte ich ursprünglich sogar vor. Aber ich wollte sehen, wie weit du mit deiner Ablehnung gehen würdest und ob deine Distanz bei kühlen Temperaturen irgendwann endet.“
Ihr stand diese Szene deutlich vor Augen. Wie könnte sie diese Nacht auch je wieder vergessen?
Daniel schaute sie währenddessen erneut nachdenklich an und überlegte, ob er ihr den Rest auch erzählen oder besser gleich zum Ende überwechseln sollte. Er fühlte sich in Paulas Gegenwart manchmal mindestens genauso unsicher, wie sie es in Bezug auf ihn beschrieben hatte. Dieses für ihn zugegebenermaßen ziemlich ungewohnte Empfinden machte aber, wenn er ehrlich war, den eigentümlichen Reiz ihrer Person aus. Das, was er Phillip gegenüber gesagt hatte, stimmte. Paula war anders als alle Frauen, die er in seinem Leben näher kennengelernt hatte. Sie war durch und durch anständig. Sie versuchte nicht nur so zu wirken, nein, sie war es einfach, tief aus sich heraus. Sie verabscheute zweideutige Ausdrücke, flirtete nie und war erschreckend ehrlich, verlässlich und konsequent. Eigentlich in allem das genaue Gegenteil von ihm. Und genau das forderte ihn heraus. Er hatte zwar in den letzten Monaten die meiste Zeit damit verbracht, sich über sie aufzuregen, aber vielleicht war genau dies der Grund, weshalb er sie im Vergleich zu vielen anderen Frauen von Anfang an nie als langweilig empfunden hatte. Im Gegenteil, sie besaß die seltene Fähigkeit, ihn zu überraschen. So auch jetzt.
„Und wie ging es dann weiter?“, wollte sie wissen. Dabei stand ihr echtes Interesse ins Gesicht geschrieben. Sie musste unwillkürlich an den um sie geschlungenen Arm denken, als sie morgens gemeinsam mit ihm im Schlafsack aufgewacht war. Vielleicht hatte Daniel in dieser Nacht ja doch nicht von ehemaligen Freundinnen geträumt?
Er setzte zu einem schiefen Lächeln an und beschloss einen tapferen Vorstoß in Richtung Aufklärung zu wagen. Unter Paulas bieder wirkendem Äußeren schlummerte möglicherweise ein kleiner Vulkan, der nur darauf wartete, ausbrechen zu können. Temperament besaß sie genügend, daran gab es keine Zweifel und im Lauf der letzten - zumindest für sie beziehungsfreien - Monate sollten sich eigentlich genug Zärtlichkeitsdefizite angesammelt haben. Es würde folglich ein besonderes Vergnügen sein, bei diesem Ausbruch dabei zu sein. „Na ja, während du zu nächtlicher Stunde neben mir herumgezittert hast, überkamen mich urplötzlich einige wenig jugendfreie Vorstellungen, die mich genauso erschreckten wie dich, falls du etwas davon mitbekommen hättest, meine ich. Vermutlich wärst du mit irgendeiner Nagelfeile auf mich losgegangen oder so.“ Er schaute betont unschuldig drein, aber seine Mundwinkel zuckten unübersehbar. Die Geschichte ihrer standardmäßigen Selbstverteidigungsmaßnahmen hatte also auch ihn erreicht.
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