Als Thoralf dies übersetzte, ging ein ungläubiges Raunen durch die Menge. Iska vernahm Wortfetzen, aus denen sie die immer gleiche Frage heraushörte: ‚Wie viel ist das, fünftausend Denarii?‘ Gerade wollte sie die gleiche Frage Wiborg stellen, als Thoralf rasch zu dem Präfekten sprach: „Herr, ich glaube, Ihr seid nicht richtig informiert über unser armes Dorf. Wir verfügen über kein Gold oder Silber oder gar römische Münzen. Bisher haben wir unseren Tribut in Weizen und Tieren gezahlt und euer Vorgänger war stets zufrieden mit unseren Zahlungen. Wie sollten wir armen Bauern zu Münzen kommen, kann doch kaum einer von uns lesen oder schreiben, noch Eure Sprache sprechen? Ich bitte euch, seht von solch unerfüllbaren Forderungen ab!“
Der Präfekt wurde während der Rede des Dorfältesten immer ungehaltener. Mit hochrotem Kopf rief er seinen Soldaten einige Anweisungen zu. Weitere fünf Männer sprangen von ihren Pferden. Wie auf ein geheimes Kommando zogen alle Soldaten gleichzeitig ihre Schwerter. Diejenigen, die noch auf ihren Pferden saßen, lenkten diese jetzt um die Dorfbewohner herum, so dass sie alle von einem lockeren Ring berittener Soldaten umgeben waren. Der Anführer erhob wieder das Wort und seine Stimme klang jetzt schrill und bösartig.
Thoralf übersetzte erneut: „Ihr verweigert Rom das, was Rom zusteht! Meine Soldaten werden jetzt die Hütten und Ställe durchsuchen. Schenkt mir Glauben, wenn ich euch sage, dass Rom auch von euch den zustehenden Tribut erhalten wird!“ Noch während der Dorfälteste die Worte übersetzte, gab der Präfekt seinen Leuten ein Zeichen. Die zehn Soldaten, die zuvor von ihren Pferden gestiegen waren, schwärmten in die Hütten. Keiner der Dorfbewohner wagte es, sich zu rühren. Alsbald kehrten die Männer zu ihrem Anführer zurück. Es war offensichtlich, dass ihm die Soldaten berichten mussten, weder Geld noch Gold oder Edelmetalle gefunden zu haben. Der Präfekt ließ sein Pferd vor Wut vor- und zurücktänzeln, dann wechselte er einige Worte mit einem der Soldaten. Wieder verteilten sich die Männer. Diesmal gingen sie aber durch die Reihen der Dorfbewohner. Rasch war zu erkennen, dass sie dabei alle jungen Männer des Dorfes in der Mitte vor dem Präfekten zusammentrieben. Ängstlich warf Iska ihrem Bruder einen Blick zu, sah sich und ihn aber auch schon kurz darauf von kräftigen Soldatenhänden gepackt und zu den anderen gezogen. Unsanft wurden sie zu Boden gestoßen.
Wieder musste Thoralf die Worte des Präfekten übersetzen: „Dies ist der Tribut, den Rom nun von euch fordert! Jeder dieser jungen Männer, die Rom werden dienen dürfen, wird von mir großzügigerweise mit fünfhundert Denarii angerechnet. So wird Rom auch nur zehn eurer Kinder einfordern. Ich, Gaius Quintus Vulturius, von Caesars Gnaden Präfekt von Novaesium entscheide so!“
Arrius Lupus gab einem Soldaten erneut Anweisungen. Dann zeigte er auf einzelne Kinder, die von dem Soldaten zu den Dorfbewohnern zurückgeschickt wurden. Iska und ihr Bruder waren nicht dabei. Übrig blieben zehn der ältesten, kräftigsten und hübschesten Kinder des Dorfes. Erneut ging ein Stöhnen durch die Reihen der Dorfbewohner. Mutlos stand Thoralf vor dem Präfekten. Die Tränen in seinen Augen konnte er nicht unterdrücken.
Wieder musste er übersetzen: „Diese Kinder werden Rom dienen dürfen, sie werden als Sklaven dem glorreichen Caesar in meiner Stadt Novaesium dienen. Seid froh und dankbar, dass ich diese Lösung für euer Problem gefunden habe. Und seht zu, dass ihr die nächste Forderung Roms erfüllt! Sonst findet ihr euch alle noch als meine Sklaven wieder.“ Bei den letzten Worten lachte der Präfekt schallend und seine Soldaten fielen wiehernd in das Gelächter ein.
Gerwolf, Iskas und Wiborgs Vater, trat erneut zu Thoralf. Ein Soldat wollte ihn in die Reihen der Dorfbewohner zurückschicken, doch Gerwolf war ein großer und kräftiger Mann und er wischte die Hand des Soldaten wie nebenbei zur Seite. Bevor dieser sein Schwert ziehen konnte, stand Gerwolf schon vor Thoralf. Der Präfekt hieß seinen Soldaten zu warten. Neugierde war auf seinem Gesicht zu lesen. Gerwolf sprach so laut zu dem Dorfältesten, dass ein jeder ihn gut verstehen konnte: „Thoralf, sag dem Präfekten, dass er nicht einfach unsere Kinder mitnehmen kann. Sie sind unser Fleisch und Blut und wir sind keine Sklaven Roms, sondern wir leben unter römischem Schutz auf diesem Land. Die Forderungen, die er stellt, sind zu hoch und wir werden versuchen, sie das nächste Mal zu erfüllen. Aber er soll uns, um der Götter willen, unsere Kinder lassen, denn sonst nimmt er uns die Zukunft!“ Thoralf nickte, dann übersetzte er die Worte Gerwolfs.
Gespannt schauten alle Dorfbewohner auf den Präfekten, wie dieser wohl reagieren würde. Ein belustigtes Lächeln spielte um seine Lippen, ansonsten zeigte er keine Regung. Dann, als Thoralfs Rede endete, gab er dem Soldaten, der vorhin Gerwolf aufhalten wollte, einen Wink. Aus dem Augenwinkel erkannte Gerwolf, wie der Soldat mit erhobenem Schwert auf ihn zukam und er reagierte automatisch. Als der Soldat nahe genug heran war, drehte Gerwolf seinen Körper gerade so weit, dass er den Arm des Soldaten mit dem Schwert abwehren konnte. Mit der anderen Hand schlug er dem Römer ins Gesicht, so dass dieser einen weiten Satz nach hinten machte und auf dem Boden landete. In Sekundenschnelle färbte sich dessen Gesicht rot vom Blut, das aus der Nase quoll. Erstaunt blickte der Soldat auf den dastehenden Gerwolf. Er wischte sich das Blut aus dem Gesicht und schaute nun ebenso erstaunt auf seine feuchte Hand.
Keiner der Menschen achtete auf den Präfekten, der inzwischen einem anderen Soldaten ein Zeichen gab, worauf dieser Gerwolf mit gezücktem Schwert von hinten ansprang. Thoralf erkannte die Gefahr und stieß einen warnenden Schrei aus. Doch zu spät. Gerwolf wirbelte herum und noch in der Drehung trennte der Schlag des Soldaten seinen Kopf vom Rumpf. Blut spritzte und ein Schrei ging durch die Dorfbewohner. Aber noch immer wagte es niemand, sich zu rühren. Grinsend drehte der Soldat, der Gerwolf getötet hatte, sich um die eigene Achse, bereitete die Arme aus, wie ein Gladiator in der Arena, beifallheischend. Dann bückte er sich, um Gerwolfs Kopf aufzuheben.
Doch plötzlich hielt der Soldat inne. Erst wurde sein Blick erstaunt, dann starr. Während er langsam vornüber zu Boden kippte und Gerwolfs Kopf unter sich begrub, wurde hinter ihm Iska erkennbar, das blutige Messer noch in der Hand haltend.
Niemand im Dorf bewegte sich. Es schien, als würden alle die Luft anhalten. Solch eine Tat, noch dazu von einem kleinen Mädchen, auch wenn es wie ein Junge aussah, hatte niemand erwartet. Es herrschte in diesem Moment Totenstille. Der erste, der sich wieder fasste, war Thoralf und er zischte Iska die Worte zu: „Flieh, Iska, flieh!“ Dann warf er sich dem heranpreschenden Präfekten entgegen. Der hielt sein Schwert hoch erhoben und zum Schlag bereit, wurde aber durch den im Weg stehenden Thoralf ein wenig aufgehalten.
Iska handelte wie im Traum. Das Messer glitt ihr aus der Hand, sie drehte sich um und rannte zwischen den Dorfbewohnern, die eine schmale Gasse bildeten, in Richtung Wald. Links und rechts standen Soldaten mit ihren Pferden, aber die Dorfbewohner behinderten sie durch die gebildete Gasse. Aus dem Augenwinkel sah Iska noch, wie der Präfekt den Dorfältesten einfach über den Haufen ritt und dann ohne Rücksicht auf etwaige Opfer hinter ihr her preschte. Iska konnte von Glück reden, dass sie durch das allgemeine Durcheinander ein wenig Zeit gewonnen hatte. Aber würde sie vor den Römern den Wald erreichen können?
Iska handelte instinktiv. Wie ein gejagtes Reh. Hören und Fühlen waren ausgeschaltet, die einzigen Geräusche, die sie vernahm, waren das Klopfen ihres Herzens und ihr Atem, der stoßweise ging. In ihrem Kopf wiederholte sich ständig die Szene, wie ihrem Vater der Kopf abgeschlagen wurde. Träumte sie? Konnte das alles Wirklichkeit sein? Ihr Vater? Einfach so ermordet? Ermordet wegen einer Frage, einem Einwurf, einer Bitte? Wieder und wieder sah sie den Kopf rollen, den Soldaten hämisch grinsen und triumphierend die Arme heben.
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