Der Mann fesselte mich. Gern hätte ich ihn zu weiteren Erzählungen ermuntert – ganz gleich, ob Darby bei mir gewesen wäre oder nicht. Aber es war Darby, der ihn aufs Hauptthema zurückbrachte.
„Haben Sie die Seeräuber gesehn?“, rief der Junge in atemloser Erregung.
John Silver richtete sich an seiner Krücke auf und warf einen finsteren Blick auf die Stelle, wo die Kanonenkugel die Brigg aufgerissen hatte.
„Gesehn…?“, wiederholte er. „Nun, mein Junge, das kommt drauf an, was man darunter versteht.“
„Ich meine, in der letzten Zeit?“
„Nein, das kann ich nicht mit gutem Gewissen sagen. In der letzten Zeit – nein… Mit meinem Bein früher war’s was anderes. Und auch damals, als Flint mich auf den Strand gesetzt hat.“
„Dann kennen Sie also Flint?“, unterbrach ich ihn.
Er schüttelte den Kopf. „Kennen…? Nein, nein, mein junger Herr, so blutige Schurken kenne ich nicht! Ich hab die Halunken gesehen, ja, das stimmt – sogar mehr von ihnen, als mir recht ist. Und was sie mir angetan haben, war schrecklich genug. Aber unser Herrgott hat zweifellos beschlossen, dass ich meinen Teil hinter mir habe. Denn beim letzten Mal ist es mir gelungen, mich mit heiler Haut aus den Händen dieser Mörder zu befreien.“
„Haben sie Ihr Schiff vor Handy Hook angegriffen?“, erkundigte ich mich.
„Vor Handy Hook?“, wiederholte er. „Schon möglich, junger Herr, dass es dort war. Wir haben uns wenig darum gekümmert, wo wir uns befanden. Unser einziger Gedanke war, ungeschoren in den sicheren Hafen zu laufen.“
„Aber wie ich sehe, haben sie euch beschossen. Und eine Kugel hat getroffen.“
„Das da?“, fragte er und deutete auf die aufgerissene Stelle im Schiffsrumpf. „Ach ja, eine Kugel, das stimmt. Aber, Sir, darf ich mir auch eine Frage erlauben?“
„Bitte!“
„Wissen Sie vielleicht, ob noch andere Fahrzeuge draußen vor dem New Yorker Hafen gejagt worden sind?“
Ich zeigte nach jener Stelle hinüber, wo Kapitän Farradays Segler eine knappe Seemeile oberhalb der Brigg vor Anker lag und leicht auf den Wellen schaukelte.
„Dieses Postboot aus Bristol ist erst gestern Morgen dem berüchtigten Kapitän Rappee entwischt“, erzählte ich ihm.
Er runzelte die Stirn und blickte finster drein. „Donnerwetter, junger Herr, das ist ja eine Hiobsbotschaft – Kapitän Rappee! Jetzt sind bestimmt schon die königlichen Kriegsschiffe hinter ihm her?“
„Leider nein“, erwiderte ich. „Das nächste liegt in Boston. Vor einer Woche können wir die Schurken nicht verfolgen.“
Bekümmert schüttelte er den Kopf. „Donnerwetter noch mal, das sind schlechte Neuigkeiten! Ein Glück, dass ich die Segel vollgenommen hab! Er war hinter mir her, bis es dunkel wurde. Erst dann gierte er ab – mehr aus Furcht vor Sandbänken als vor sonst was. Das kann ich beschwören!“
„Dann hat er also gestern Jagd auf Sie gemacht?“
„Stimmt genau, junger Herr! Hab ich das nicht vorhin schon gesagt?“
Ich zuckte die Schultern.
„Natürlich war’s gestern“, fuhr er fort. „Es war gestern um die Mittagszeit, als er am Horizont auftauchte und mit großer Fahrt auf uns zukam. Er wollte uns eine Spiere abschießen, um uns aufzuhalten. Aber statt der Holzstange traf er den Rumpf, wie Sie sehen. Wir sind ihm noch mal durch die Netze gegangen, obwohl er uns unbedingt fangen wollte.“
Einer von den Fährleuten kam längs des Ufers auf uns zu gerudert. Ich winkte ihm zu, er solle unter dem Pfahldamm anlegen, auf dem wir standen.
„Ich muss fort“, sagte ich deshalb zu Silver.
„Schade, junger Herr!“
Als er sah, wie ich mich bereitstellte, um die Fangleine aufzuschnappen, die der Fährmann an Land werfen wollte, drängte er sich dazwischen und bat:
„Lassen Sie mich das machen, Sir! Das ist Arbeit für einen Seemann.“
Geschickt fing er die Fangleine auf und hielt sie fest in seiner rechten Hand, während er mit der anderen den Korb hinstreckte, den Darby auf den Boden gestellt hatte.
“So, junger Herr, jetzt können Sie bequem einsteigen. Und den Korb hier – wollen Sie den mit auf die Ruderbank nehmen?“
„Ja, danke, Silver.“
Er deutete mit dem Kopf auf Darby. „Und dieser nette Junge hier – geht der auch mit?“
„Nein, Darby bleibt hier“, erwiderte ich, während ich ins Ruderboot stieg.
„Dann erlauben Sie ihm bitte, mich für eine halbe Stunde zu begleiten. Er könnte mich ein bisschen durch die Stadt lotsen, denn ich bin fremd in diesem Hafen, und für ’nen Krüppel ist jeder Umweg doppelt lästig.“
„Von mir aus kann er Sie begleiten, wenn er will.“
Darbys sommersprossiges Gesicht strahlte vor Freude, noch länger die Gesellschaft des einbeinigen Seemanns genießen zu können, der so spannend von Gefechten mit Seeräubern erzählte.
„Ja, Master Robert, das mach ich gern!“, versicherte er. „Ich zeig ihm schon den richtigen Weg überallhin.“
Mein Fährmann wollte sich gerade in die Ruder legen, als mich ein plötzlicher Gedanke veranlasste, ihn damit noch einen Augenblick warten zu lassen.
„Übrigens, Master Silver“, rief ich, „vielleicht kann Darby Ihnen nicht bei allem behilflich sein. Suchen Sie irgendjemand Besonderen?“
Nur wenige Sekunden zögerte er und antwortete dann: „Nun, nicht gerade jemand Besonderen, Sir. Ich möchte gern in die `Walfisch-Schenke´, wenn Sie vielleicht zufällig von so ’ner Kneipe gehört haben sollten.“
Ich nickte. „Sie liegt im Ostviertel, gleich hier anschließend. Darby kann Sie hinführen.“
Er rief noch einmal seinen Dank zum Boot hinüber und stapfte behände an seiner Krücke davon. Stolz trabte Darby neben ihm her.
An Bord der `Anna´ fand ich alles drunter und drüber. Wie ich erwartet hatte, war Kapitän Farraday noch nicht wieder zurückgekehrt, seit er am Nachmittag zuvor an Land gegangen war. Zweifellos verschlief er jetzt in der `Georgs-Taverne´ die Wirkung verschiedener Getränke.
Deshalb führte Master Jenkins die Aufsicht über das Schiff. Früher war er einmal mit knapper Not dem Schicksal entgangen, von dem blutrünstigen Flint und seinem Gefährten Rappee ertränkt zu werden.
Mit ihm die Ladungsverzeichnisse zu überprüfen war ein langweiliges Geschäft. Erst am späten Nachmittag waren wir mit unserer Arbeit fertig und kehrten auf Deck zurück. Meine Jolle hatte man schon längst zurückgeschickt. Deshalb befahl Jenkins dem Bootsmann, ein paar Matrosen auszumustern und mich an Land zu rudern.
Als ich neben dem Fallreep stand, sprach ich so beiläufig über die beiden Schiffe, die seit heute Morgen in den Hafen eingelaufen waren.
„Übrigens, die Brigg ist mir Ihrem Freund Rappee aneinander geraten“, bemerkte ich.
„Ja“, erwiderte Jenkins mürrisch. „Es ist erstaunlich, dass ein Barbados-Segler Zucker und Rum nach New York bringt. Das überlassen die Burschen meistens den Yankees.“
„Richtig“, gab ich zu. „Aber keine Regel ohne Ausnahme.“
In diesem Augenblick ertönte ein schriller Signalpfiff stromaufwärts an Bord der spanischen Fregatte.
„Jammerschade, dass das nicht eines unserer Kriegsschiffe ist“, entfuhr es mir. „Sonst würde Rappee eine Dosis von seiner eigenen Medizin zu schlucken kriegen.“
Master Jenkins‘ Gesicht verriet äußerste Missbilligung.
„Diese Spanier!“, schnaubte er. „Ich möchte gern wissen, was sie überhaupt hier zu suchen haben. Die führen nichts Gutes im Schilde.“
„Was sollten die denn schon anstellen?“, fragte ich.
Er zuckte die Achseln. „Das weiß ich auch nicht. Aber von den Spaniern ist nie was Gutes gekommen, Master Ormerod, das können Sie mir glauben.“
Bevor ich antworten konnte, meldete der Bootsmann, dass die kleine Jolle klar sei und am Fuß der Leiter liege. Ich wünschte Master Jenkins rasch einen guten Abend und stieg ein.
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