Was meine Gedanken von dem irischen Mädchen vor der Tür zunächst ablenkte, war der Kehrreim eines dieser Lieder – eine wilde, gejohlte Weise von Blut und wüstem Gelage:
„Fünfzehn Mann auf dem Totenschragen -
Jo-ho-ho und ’ne Buddel voll Rum!
Satan und Suff hat sie alle erschlagen –
Jo-ho-ho und ’ne Buddel voll Rum!”
Ich blickte nach der Ecke, aus der die Töne hervordrangen, und entdeckte den einbeinigen Seemann John Silver. Mit einem Zinnkrug hämmerte er den Takt auf die Tischplatte und dirigierte damit die Gruppe, die sich um ihn geschart hatte. Einer der lautesten Schreihälse nach ihm war Darby McGraw, dessen flammendroter Haarschopf wie die Flagge eines Seeräubers leuchtete. Mit seiner schrillen Stimme überschrie er selbst die donnernden Bässe seiner Genossen.
Nie zuvor hatte ich eine schändlichere Matrosenbande zusammen gesehen! Zwei Kerle fielen mir besonders auf: ein schwammiger Mann mit talgiger Gesichtshaut, dessen schlaue Augen durch eine fettige schwarze Haarsträhne verdeckt wurden – und ein großer, rüstiger mahagonibrauner Bursche mit geteertem Zopf, dem das Singen offenbar ebenso viel Spaß machte wie dem armen betrunkenen Darby.
Silver sah mich fast im gleichen Augenblick, in dem ich ihn erspähte. Mit einer kurzen Bemerkung zu den anderen sprang er auf und stelzte quer durch die Stube, wobei er Darby am Ärmel hinter sich herzerrte. Seine großen, gutmütigen Augen zeigten ein Lächeln, das einen leichten Anflug von Ärger verriet.
„Sie kommen ihn also holen, nicht wahr, Master Ormerod?“, stieß er mit Trompetenstimme hervor, um das wüste Gejohle zu übertönen. „Sie denken sicher, ich sollte mich schämen, stimmt’s? Aber Sie tun mir unrecht, Sir. Ich bin nicht der Mann, der ’nen vielversprechenden Jungen auf Abwege führt. Alles, was Darby gekriegt hat, war gutes, ausgelagertes Bier – und die Ohren voller Seemannsgarn, damit er in den kommenden Nächten was zu träumen hat. Deshalb sind Sie ihm doch hoffentlich nicht böse, Master Ormerod – oder…?“
„Ich bin nicht seinetwegen gekommen“, antwortete ich. „Aber da ich schon einmal hier bin, ist es am besten, wenn er mit mir nach Hause geht. Doch sagen Sie, Silver, woher kennen Sie meinen Namen?“
Verschmitzt zerrte er an seinem Stirnhaar.
„Nun, natürlich von Darby, Sir. Aber das hätte mir auch jeder andere hier an der Wasserkante sagen können. So ’nen gutherzigen, freundlichen jungen Herrn kennen eben alle. Aber entschuldigen Sie bitte, wenn ich so frei bin, Sir. Kann ich Ihnen mit irgendetwas dienen?“
„Ich glaube nicht“, erwiderte ich. „Ich suche einen Oberst O’Donnell.“
Ein leichtes, überraschtes Flackern verwischte die Freundlichkeit in seinen Gesichtszügen. Er starrte durch den Schankraum.
„Von dem Gentleman hab ich noch nie was gehört, Sir. Kein Wunder: Ich bin heut zum ersten Mal hier. Aber ich hab ’n paar gute Kumpel von früher getroffen. Vielleicht erfahr ich was von dem einen oder andern. Einen Augenblick bitte, Master Ormerod! Ich will sehen, was ich für Sie tun kann.“
Der Vorschlag gefiel mir. Denn in der Spelunke schien sonst niemand zu sein, der mir den Obersten O’Donnell vorstellen konnte. Deshalb nickte ich und sagte:
„Gut, ich warte hier.“
Während Silver davonstelzte und sich behänd zwischen den dicht besetzten Tischen hindurchwand, fragte ich Darby, was er die ganze Zeit über getrieben habe. Zu meinem Erstaunen zeigte sich der Junge mürrisch und schweigsam und gab nur einsilbige Antworten. Ein einziges Mal blitzten seine Augen begeistert, als ich bemerkte:
„Das war ja ein richtiges Teufelslied, das ihr da vorhin gesungen habt, Darby!“
„Ja, und was für eins!“, rief er aus. „Während man singt, sieht man das Blut vom Entermesser tropfen.“
„Und wer sind die anderen, die mit dir gesungen haben?“
Wie ein Vorhang überzog der mürrische Ausdruck sein Gesicht.
„Och, bloß Schiffskameraden.“
„Deine?“
„Nein, von Master Silver.“
„Wie heißen sie denn?“
„Weiß ich nicht.“
„Nur heraus damit, Darby!“
Er zögerte einen Augenblick und erklärte dann stockend:
„Den einen nennt er Bill Bones.“
„Und den anderen?“
„Schwarzer Hund… Aber dieser zweite Name ist natürlich nicht der richtige. Nur so, wissen Sie.“
Silver war in Gesellschaft eines Bierzapfers durch eine Tür im Hintergrund verschwunden. Jetzt kam er, auf seiner Krücke schaukelnd, wieder herein, gefolgt von einem hochgewachsenen, hohlwangigen Mann. Dessen prunkvolle schwarzsilberne Kleidung und der Goldknauf an seinem Degen wiesen ihn auf den ersten Blick als Gentleman aus. Diesen Mann führte Silver mit rauer und zugleich herzlicher Höflichkeit zu mir.
„Sie haben Glück, Master Ormerod!“, rief er, als er auf Hörweite herangekommen war. „Mein Freund hatte erfahren, dass der Oberst im oberen Stock sei.“
Dann deutete er auf mich und erklärte seinem Begleiter:
„Das hier ist der junge Herr, von dem ich sprach, Euer Gnaden.“
Er verbeugte sich und lächelte uns untertänig zu. „Meine Hochachtung, werte Herren, und stets zu Diensten!“
Damit schwang er sich an seiner Krücke in die Ecke zurück, wo ihn seine Busenfreunde mit freudigem Hallo empfingen.
Der hohlwangige Mann warf mir einen scharfen – eigentlich sogar einen fast argwöhnischen Blick zu. Er benahm sich nervös, und seine Augen flackerten ruhelos.
„Nun, Sir?“, sagte er. „Sie wünschen mich zu sprechen?“
„Wenn Sie Oberst O’Donnell sind, dann muss ich Ihnen sagen, dass Ihre Tochter Sie draußen erwartet.“
Er erschrak. „Meine Tochter? Wer sind Sie, Sir, und wie kommen Sie dazu, sich als Hüter meiner Tochter aufzuspielen?“
Ich war verdrossen, was ich den Obersten auch deutlich fühlen ließ.
„Sie hat mich nach dem Weg hierher gefragt, als sie an Land kam“, entgegnete ich. „Und da Sie Ihre Tochter bestimmt nicht gern in dieser Schenke treffen möchten, schlug ich ihr vor, Sie hinauszurufen, Sir.“
Die Winkel seines Mundes zuckten genauso abwärts wie bei ihr – eine Ähnlichkeit, die mir sofort auffiel.
„Dafür müsste ich mich ja eigentlich bei Ihnen bedanken, Sir“, antwortete er steif. „Sie ist noch ein Kind und noch ohne jede Lebenserfahrung. Ich muss ihr zugleich Vater und Mutter sein.“
Ich verbeugte mich und trat zur Seite, um ihm den Weg freizugeben.
„Master Ormerod hat Sie der Matrose genannt, nicht wahr?“, fuhr O’Donnell fort.
„Ja, Herr Oberst.“
„Vielleicht, Sir, erlauben Sie einem älteren Mann, Sie zu Ihrem ehrenhaften Betragen beglückwünschen zu dürfen.“ Ein leicht hochtrabender Ton färbte seine Rede. „Ich kenne die Ersten der vornehmen Gesellschaft in unserer Alten Welt, Master Ormerod, und ich habe die Ehre, das Amt eines königlichen Kämmerers zu bekleiden. Auf englischem Boden darf man den Namen dieses Monarchen allerdings nicht nennen. Aber eines Tages wird er seine Besitzungen bestimmt wiedererlangen, die ein Thronräuber widerrechtlich an sich gerissen hat. Ich brauche wohl nicht mehr zu sagen.“
„Ich verstehe, Sir“, erwiderte ich. „Darf ich Sie jedoch daran erinnern, dass Miss O’Donnell Sie erwartet?“
Auffahrend schoss er an mir vorbei – und Darby und ich folgten ihm auf die Straße. Der irische Bursche war immer noch hingerissen von der prunkvollen Kleidung des Mannes, von den kostbaren Krausen an seinen Handgelenken und von dem ziselierten Degenknauf.
Als wir alle drei zur Tür hinaustraten, lief Miss O’Donnell auf ihren Vater zu und fasste die Aufschläge seines Rocks.
„Ach, Vater!“, rief sie. „Bitte, sei mir nicht böse! Ich hatte das Schiff so satt! Ich musste endlich mal wieder festen Boden unter mir spüren. Ich war so allein ohne dich. Immer nur in der Kabine sitzen!“
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