»Greift zu, Ihr Leut’! Es kommen auch gleich die Kasspatzln (kleine Teigklößchen mit Käse und gerösteten Zwiebeln) auf den Tisch!«, verkündete einer der Männer am Herd. Dieser Aufforderung wurde gern und sofort Folge geleistet.
König Ludwig hatte mir beim Niedersetzen nur kurz zugenickt und damit ebenfalls so getan, als würde ich zwar zur Jagdgesellschaft gehören, aber auch nicht in direktem Bezug zu ihm selbst stehen.
Nun, das musste mir natürlich recht sein. Wenn sich der König und sein bester Vertrauter so verhielten, gab es dafür einen triftigen Grund. Auf den war ich gespannt, wusste aber mich zu beherrschen und lauschte nun den harmlosen Gesprächen über vergangene Jagderfolge, bis es Schlafenszeit wurde. Der König und sein Begleiter, in dem ich Carl Maximilian von Orff vermutete, einen Offizier und frisch ernannten Militärdozenten an der Bayerischen Militärakademie, erhielten die beiden einzigen Einzelzimmer, während wir anderen den gemeinsamen Schlafsaal der Jäger aufsuchten. Für die Treiber gab es nur eine Übernachtungsmöglichkeit im Heu der angebauten Scheune, was aber für die Leute vollkommen in Ordnung war. Es waren alles kernige Burschen, deren Bewegungen eine Leichtigkeit zeigten, die man so oft bei Menschen findet, die ihren Alltag in der freien Natur verbringen. Dazu kamen ihre sonnengebräunten Gesichter, die offenen, ehrlichen Augen und ihre freundliche Art, wie sie uns bedienten und dabei immer ein Lächeln für die Gäste hatten. Ich kannte niemanden weiter und erfuhr erst bei der Einteilung für die Aufgaben am nächsten Tag, dass es nicht alles Treiber waren, sondern auch einige von ihnen als angestellte Jäger des hohen Jagdherrn dienten und ihm vollständig ergeben waren. Man merkte ihnen an, wie sie förmlich aufblühten, als ihr Herr Ludwig, wie sie den König nach seiner Weisung anzusprechen hatten, eintrat und nun der Mittelpunkt der ganzen Gesellschaft war.
Nach und nach kehrte Ruhe ein, es brannten nur ein paar Kerzen in den Leuchtern auf der langen Tafel als Orientierungshilfe, falls einer der Herren noch den Abort aufsuchen musste und sich nicht zurechtfand.
Ich musste gerade erst eingeschlafen sein, als mich jemand behutsam am Arm zupfte und ich verwundert die Augen aufschlug. Wir schliefen alle in sogenannten Etagenbetten, die rings an der Wand angeordnet waren. Mein Mitschläfer im oberen Bett war Sepp, und ich wunderte mich, wie geschickt er das bei der Verteilung der Schlafgelegenheiten angefangen hatte. Jedenfalls war er es, der jetzt vor mir stand und mir ein Zeichen mit der Hand gab, ihm nach draußen zu folgen.
Glücklicherweise hatte ich noch meine Jagdpikesche (Jacke) vom Haken genommen und übergezogen, denn die Nacht war empfindlich kalt. Ein unangenehmer Wind schlug mir entgegen, als ich neben Sepp trat, der noch ein paar Schritte zur Seite ging und sich dann zu mir umdrehte.
»Gut, dass du kommen konntest, Charly!«, raunte er mir zu. Wir standen seit unserem letzten, gemeinsamen Einsatz auf sehr vertrautem Fuß miteinander.
»Es sind Dinge im Entstehen, die mir große Sorgen machen. Ich kann derzeit niemand mehr trauen und da fiel mir passend der Bericht über deinen Auftritt in München in die Hände. Sofort hatte ich einen Plan, weihte Seine Majestät aber nicht ein. Vielmehr brachte ich ihn dazu, sich einmal die Schießkünste eines Mannes zeigen zu lassen, der unter dem Namen Old Shatterhand oder auch Kara Ben Nemsi zahlreiche Abenteuer erlebt hat und in seinen Erzählungen davon berichtet.«
»Das darfst du aber nicht so aufnehmen, als hätte ich alles persönlich erlebt, was ich niederschreibe, Sepp. Häufig muss ich ausschmücken und nehme dazu eine Erzählung eines meiner Gefährten hinzu, um Dinge zu schildern, die ich im Augenblick des Geschehens nicht wissen konnte. Und da kann auch …«
»Scht!«, fiel mir Sepp aber ins Wort. »Keine weiteren Erklärungen! Ich kann mich erinnern, dass wir uns bei unserer Begegnung ausführlich über die Tätigkeit eines gewissen Detektivs in Amerika unterhalten haben.«
»Ja, das ist richtig, aber jetzt …«
»Nicht so bescheiden, Charly! Jetzt brauche ich deine Hilfe, aber noch kann ich nicht ausführlich erzählen, was mich bedrückt. Nur eine Bitte habe ich vorerst: Halte die Augen so weit offen, wie es Old Shatterhand in Gegenwart feindlicher Comanchen täte!«
»Nanu, Sepp? Es gibt doch keine Indianer hier in Tirol?«, versuchte ich zu witzeln, kam damit aber nicht gut an.
»Die Lage ist ernst. Es könnte sein, dass man unseren Kini … töten will!«
»Was? Aber das ist doch gar nicht …«, fuhr es mir heraus, aber rasch stieß mich Sepp in die Seite und brachte mich zum Schweigen.
»Kein Wort weiter, ich habe dort hinten am Haus eine Bewegung gesehen. Ich vermute, jemand ist uns ins Freie gefolgt!«
Tatsächlich trat eine Gestalt aus der Dunkelheit der Treiberhütte, machte ein paar Schritte zur Seite und schien dort sein Wasser abzuschlagen. Aber mein Misstrauen war geweckt. Ich ging ein wenig seitwärts auf den Mann zu, der eben hastig bemüht war, seine Kleidung wieder in Ordnung zu bringen.
»Guten Abend, Herr Baron!«, sagte ich leise. »Auch ein wenig zu viel vom guten Gerstensaft genossen? Ja, das nächtliche Hinauslaufen ist doch sehr lästig!«
Ich hatte richtig gesehen, denn schon kam die leicht näselnde Antwort:
»Ja, ich hätte es besser wissen müssen. Aber das Gebräu war einfach zu gut! Also, dann noch eine gute Nacht!«
Sepp und ich verharrten noch, bis Baron von Falkenstein wieder in die Hütte getreten war. Da berührte mich der Alte und raunte mir zu: »Aufpassen, Charly, das ist ein ganz fauler Kunde! Behalte ihn im Auge!«
»Das will ich gern tun. Aber wenn du Angst um den König hast, ist doch wohl der Jagdausflug morgen eine Gelegenheit für einen Anschlag, oder irre ich mich? Wir sind doch immerhin genügend Schützen, um im Eifer der Jagd einmal einen Fehlschuss zu machen!«
»Genau aus diesem Grund werde ich den Anton bitten, dich auf einen besonderen Platz zu stellen. Ich kenne das Gebiet hier wie meine Westentasche, auch wenn es ein wenig abseits der Heimat liegt. Doch bin ich mit Maje… mit Ludwig schon sehr oft hier draußen gewesen. Anton ist ein braver Bursche, den ich so weit eingeweiht habe, wie es erforderlich schien. So, nun lass uns noch ein wenig ausruhen, das wird morgen ein langer Tag!«
Mit dem ersten Sonnenstrahl war ich aufgestanden und hatte die Schlafstube verlassen. Was für ein herrlicher Anblick bot sich mir, als ich vor die Tür trat! Da lagen die Berge in ihrer majestätischen Schönheit, die Sonne hatte gerade ihre ersten Strahlen über eine nahe Bergkuppe geschickt und tauchte die gegenüberliegenden Berge in ein Spiel von Licht und Schatten, das mich faszinierte. Was ich sah, war die Vogelkarspitze, gut zweitausendfünfhundert Meter hoch und dabei so nahe, als könnte man dort hinüberschießen. Tatsächlich befand sich dieser Berg in einer Entfernung von einem guten Stundenweg von der Hütte aus.
Es war ziemlich kühl in der Frühe, aber ich spürte bei diesem Naturschauspiel nichts davon. Ein leises Geräusch verriet mir, dass jemand auf dem Weg von der Scheune herüberkam. Als ich mich umdrehte, sah ich einen der Treiber kommen. Er war nicht größer als ich, dabei aber durch und durch der Typus des Naturburschen aus den Bergen. Sein gebräuntes, markantes Gesicht lächelte freundlich, der Blick aus seinen wachsamen, blauen Augen zeigte mir den offenen Charakter dieses Mannes.
Gute Wahl, Sepp!, dachte ich in diesem Moment. Das ist ein Mensch, dem man keine Schlechtigkeit zutrauen würde.
»Ein herrlicher Morgen, nicht wahr? Ich bin der Anton!«, begrüßte er mich und reichte mir seine Hand, deren kräftigen Druck ich erwiderte. »Hast du schon die Gamsen dort drüben gesehen?«
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