1 ...8 9 10 12 13 14 ...30 „Kleines, kann ich etwas für dich tun?“, fragte Brian leise. Er legte seine Hand an ihre Wange und streichelte sie liebevoll, als Joan den Mund öffnete. Unsicherheit stand in ihr Gesicht geschrieben. „Sag’ mir, was dir durch den Kopf geht.“
„Wo...“, kam es endlich über ihre Lippen. „...ist... Steeeve?“
Der Schreck über diese unerwartete Frage musste ihm allzu deutlich im Gesicht stehen, denn plötzlich lief ihr eine einzelne Träne aus dem rechten Auge. Brian hatte umsonst gehofft. Ihr war nicht entgangen, dass Steve kein einziges Mal an ihrem Bett gesessen hatte, wenn sie aufgewacht war.
Erwartungsvoll sah Joan ihren Bruder an, der sich überlegte, wie er die Nachricht von Steves Tod noch einige Tage hinauszögern konnte. Dr. Cooper hatte eindringlich gesagt, dass sie jegliche Aufregung von Joan fernhalten sollten. Sie brauchte absolute Ruhe. Doch der Arzt hatte vergessen ihm zu sagen, wie er Steves Tod vor ihr verbergen sollte.
„Joan, er kann nicht zu dir kommen.“
„Er... will... nicht“, sagte sie mit traurigem Blick. „Ich bin... nicht mehr... wie vorher.“
„Das hat damit absolut nichts zu tun. Wenn er könnte, würde Steve dich niemals in dieser Situation alleine lassen“, erklärte Brian von seinen Worten fest überzeugt.
Sie schöpfte neue Hoffnung. „Warum... ist er... dann... nicht... hier?“
„Jo...“, nannte er sie sanft beim Kosenamen. „...Steve saß mit dir im Auto. Ihr hattet beide den Unfall.“
„Wie...geht es... ihm?“, fragte sie mit sorgenvollem Blick. „Ist er... schwer... verletzt?“
Brian, der sich unweigerlich an Steves Beerdigung erinnerte, traten Tränen in die Augen. Er wusste nicht, wie er seiner Schwester die schreckliche Nachricht mitteilen sollte. Vielleicht wäre es das Sinnvollste, wenn er sie zu ihrem eigenen Schutz belog, ihr nichts von Steves Tod erzählte.
„Brian...“, drängte sie ihn.
„Jo...“, begann er leise. Erwartungsvoll sah sie ihn an. Als Brian zu ihr aufblickte und sie mit traurigen Augen ansah, wusste sie, was geschehen war.
Kaum merklich schüttelte sie den Kopf. „Ich habe ihn... in meinen Träumen... gesehen.“ Tränen liefen aus ihren Augen. „Wir sind den Weg... gemeinsam... gegangen. Hand... in Hand...bis zur... Gabelung. Er wollte... den dunklen Weg... gehen, aber ich hatte... Angst. Der andere Weg... war viel... heller und ich habe... dich gesehen.“ Sie schluchzte laut. „Plötzlich... war er... nicht mehr... bei mir. Warum... hat er mich... allein gelassen?“
Durch einen Tränenschleier sah Brian sie an. Er konnte sich nicht im Entferntesten vorstellen, was Steves Tod für sie bedeuten musste. Sie hatte ihn unendlich geliebt. „Ich weiß es nicht, Kleines.“
„Lass... mich... allein...“, bat sie ihn unter Tränen.
Mit jedem Tag verbesserten sich Joans anfängliche Sprachprobleme zusehends. Die Worte kamen noch ein wenig holprig und verlangsamt über ihre Lippen, aber Dr. Cooper war angesichts der neuen Computertomographie sehr zuversichtlich, dass ihr Sprachvermögen vollständig zurückkehren würde. Einzig die starken Kopfschmerzen, unter denen Joan litt, schienen die Nachwirkung der Gehirnprellung zu sein.
Nach einer Woche war Joans Gesamtzustand so stabil, dass Dr. Cooper seine Patientin auf die normale Station verlegte. Noch am selben Tag begann die Physiotherapeutin mit einer für Joan abgestimmten muskelaufbauenden Therapie. Gut gelaunt plapperte sie auf ihre Patientin ein und es schien sie nicht zu stören, dass sie nie eine Antwort bekam.
Schlief Joan nicht, dann lag sie stumm in ihrem Bett, starrte an die Decke oder weinte leise in ihr Kissen. Niemand drang zu ihr durch, nicht einmal Brian, der sie täglich besuchte.
„Du hattest einen Schutzengel“, sagte Brian leise, da sie angesichts ihrer schweren Verletzungen sehr viel Glück gehabt hatte.
„Nein... ich hatte zwei. Steve hat mir seinen geliehen“, flüsterte Joan unter Tränen. Es war das erste Mal, dass sie mit jemanden sprach, seit sie von Steves Tod erfahren hatte. Langsam wandte sie den Kopf zu Brian herum und blickte ihn mit traurigen Augen an. „Es tut mir Leid. Ich wollte euch nicht verstoßen.“
„Ich weiß“, sagte er sanft und nahm ihre Hand zwischen die seinen. „Du brauchtest Zeit für dich und deine Trauer.“
„Ich vermisse ihn so...“
„Ich weiß, Kleines... ich weiß...“
Es war nicht nur Steves fröhliche Art, die sie vermisste, sondern auch seine wunderschönen, grünen Augen. Seinen liebevollen Blick, wenn er ihr sagte, dass er sie liebte. Es gab so viel, was sie ihm noch hätte sagen wollen, wofür sie ihm danken wollte, doch all ihre Gedanken endeten letztendlich in drei kleinen aber sehr bedeutungsvollen Worten. Ich liebe dich. Dafür war es nun zu spät. Steve würde ihr nie wieder zuhören und mit ihr lachen. Er hatte sie für immer verlassen.
Als Dr. Cooper am nächsten Morgen zu ihr ins Zimmer kam, fragte Joan ihn erstmals, wie ihre weitere Behandlung aussah. Vor zwei Wochen war sie aus dem Koma erwacht, doch sie hatte noch keinen Fuß aus ihrem Bett gesetzt.
„Da sowohl Ihr Handgelenk als auch Ihre gebrochenen Rippen sehr gut geheilt sind und Ihnen keine Probleme mehr bereiten, denke ich, dass die Physiotherapeutin nun mit der muskelaufbauenden Therapie beginnen kann. Sie haben sehr lange gelegen und an Gewicht verloren...“, erklärte er ihr, während er auf dem Stuhl neben ihrem Bett saß. „...deshalb werden Sie sich erst wieder Schritt für Schritt ans Laufen gewöhnen müssen.“
„Was genau bedeutet das, Doktor? Heißt das, ich kann meine Beine nicht mehr bewegen?“
„Mrs. Farley, Sie sind nicht querschnittsgelähmt“, klärte Dr. Cooper sie auf. „Denken Sie an eine Marionette, die sich nur dann bewegt, wenn ein Mensch an den Fäden zieht. Anstelle der Fäden haben wir Muskeln. Ihre Muskeln wurden jedoch in den vergangenen sechs Wochen kaum bewegt, sie sind erschlafft. Wenn Sie jetzt das Bett verließen, würden Ihre Beine unter der Last Ihres Körpers zusammenbrechen.“
„Aber durch die Physiotherapie werde ich doch wieder laufen können?“, fragte sie hoffnungsvoll.
„Anfangs werden Sie Probleme haben, aber ich versichere Ihnen, nach einigen harten Wochen Physiotherapie laufen Sie aus unserem Krankenhaus“, sagte Dr. Cooper lächelnd.
Der März verging und bei jedem seiner Besuche fiel Brian auf, wie Joan mehr und mehr zu Kräften kam. Nach kurzer Zeit waren ihre Arme so kräftig, dass sie sich mit ihrem Rollstuhl allein fortbewegen konnte – der erste Schritt in die Unabhängigkeit. Joan verschwendete keine Zeit, arbeitete hart an sich und ihrem Körper und bald stellten sich die ersten Erfolge bei der Therapie ihrer Beine ein. Mariella, Joans Physiotherapeutin, war sehr Stolz auf ihre Patientin. Nach wochenlangem Muskeltraining konnte Joan sich mit Hilfe von zwei Krücken auf ihren eigenen Füßen halten und einige Schritte gehen. Damit hatte Joan einen weiteren Pass des Berges erklommen, doch es würden noch Wochen vergehen, bis sie den Gipfel endlich erreicht hatte.
Neben der täglichen Therapie mit Mariella, traf Joan sich dreimal in der Woche mit einer Psychologin, der sie jedoch weitaus weniger Sympathien als Mariella entgegenbrachte. Anfangs hatte Joan sich ihr nur schwer öffnen können, was hauptsächlich daran lag, dass sie mit Fremden nicht gern über persönliche Dinge sprach. Dennoch überwand sie mit der Hilfe ihrer Psychologin ihre Angst vor dem Alleinsein. Ihr Lebenswille kehrte zurück, während der Hass, den sie zumeist auf sich selbst gerichtet hatte, allmählich verebbte. Nur noch selten, in besonders schweren Stunden, wünschte Joan sich, in jener Nacht mit Steve gestorben zu sein. Doch auch diese Gedanken wurden immer seltener.
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