von
Erhard Regener
I M P R E S S U M
Copyright © 2021 Erhard Regener
Alle Rechte vorbehalten.
Autor: Dr. Erhard Regener
Außerkreith 20, 6162 Mutters, Österreich
+49 152 5434 5497
feedback@regener.tirol
Lektorat: Dr. Gregor Ohlerich, Berlin
Auch als Printausgabe erhältlich.
www.erhard-regener.de
Dies ist die Geschichte eines Feiglings. Sie hat ihre Aufgabe erfüllt, Wenn sie den Zweifelnden Mut macht, auf ihr Herz zu hören.
Vergangene Woche hatte Atsche den letzten Brief von Rosana erhalten, den allerletzten. Nach zwei Jahren, in denen sie nichts weiter voneinander gehabt hatten als ihre regelmäßigen Briefe; zwei Jahre, in denen er keine andere Frau auch nur sehnsüchtig angesehen, geschweige denn angefasst hatte. Nach zwei Jahren, in denen er immer noch die sinnlose Hoffnung gehegt hatte, sie würde eines Tages zu ihm zurückkehren können, brach Rosana den Kontakt nun ab.
" Atsche, ich kann nicht mehr! Ich weiß, ich werde nie wieder so geliebt werden, wie du mich geliebt hast, aber es ist eine Illusion ohne jede Perspektive. Verschwende dein Leben nicht! Du wirst in meinem Herzen bleiben - für immer."
Was sollte Atsche dazu sagen? ER war es schließlich gewesen, der sie hatte widerstandslos ziehen lassen. ER hatte tatenlos zugesehen, wie sich der Vorhang langsam gesenkt hatte, bis er endgültig gefallen war - der Eiserne Vorhang zwischen ihnen.
Atsche war für ein paar Tage zu seinen Eltern nach Schnelleben gefahren. Nach dem Abschluss seines Studiums waren die Besuche immer seltener geworden. Nicht dass er sich von den Eltern Trost erhoffte. Über Rosana hatten sie nie wieder gesprochen. Seit ihrer Abreise war das Thema in diesem Hause tabu. Aber die Abende in der Natur zu verbringen, brachte ihm immerhin etwas Ablenkung.
Bei seiner Ankunft erzählte ihm seine Mutter, dass es Tante Anna sehr schlecht ginge und sie in Kürze das Schlimmste erwarten müssten. Tante Anna war eine Großtante von Atsche. Sie hatte immer in Schnelleben gewohnt und sich nie weit von diesem Dorf entfernt. In ihrer Jugend war Anna ein hübsches Mädchen gewesen. Nun wird dies, wohl aus Freundlichkeit und Mangel an gegenteiligen Beweisen, gemeinhin fast jeder alternden Frau nachgesagt. Doch ließen Annas nachkolorierte Jugendfotos aus dem Familienalbum jeden Zweifler verstummen. Die wenigen jungen Burschen im Dorf hatten ihr alle den Hof gemacht. Und obwohl Anna ihren Freundinnen gegenüber immer wieder beteuert, ja fast geschworen hatte, den Otto würde sie niemals heiraten - am Ende machte doch Otto, mit seiner den Wagners eigenen Beharrlichkeit, das Rennen.
Atsche erinnerte sich gern an Onkel Ottos hintergründigen Humor. Oft hatten sie vor der Gartenlaube gemeinsam Kaffee getrunken, während Onkel Otto seine billigen Stumpen rauchte. Atsche lauschte dabei gespannt den Geschichten, die der Onkel zu erzählen hatte: Geschichten einer Generation, die noch Originale zuhauf hervorgebracht hatte, trocken gewürzt durch Ottos obligates Plattdeutsch. Die Vertrautheit zwischen Tante Anna und Onkel Otto strahlte eine wohltuende Ruhe und Harmonie aus, die durch ihre gegenseitigen Sticheleien eher noch bestätigt wurde.
Nachdem Onkel Otto vor etlichen Jahren gestorben war, wirkte Tante Anna etwas hilflos. In der Folge übernahm Atsche die anstrengenden körperlichen Arbeiten in ihrem Garten, wie einst ihr Mann. Den Kaffee vor der Laube tranken sie nun zu zweit. Anstelle des Zigarrenqualms bildete fortan ein Gläschen Likör den Abschluss des Rituals, wobei Tante Anna kein einziges Mal die Bemerkung "ausnahmsweise" ausließ. Und allmählich wurde sie wie eine zweite Großmutter für Atsche. Doch nun ging es mit Tante Anna unweigerlich dem Ende entgegen.
"Ich war gestern Abend bei Anna. Gehst du heute allein zu ihr? Es ist besser, wenn wir uns alle abwechseln.", sagte die Mutter. Atsche trank einen letzten Schluck Tee und erhob sich. Im Flur zog er den Lodenmantel über und pflückte im Garten ein paar Blumen. Die einzigen Blumen, die jetzt noch blühten, waren die letzten Herbstastern. Er mochte Astern, es waren für ihn die Nelken des Herbstes. Die zehn Minuten zum Haus von Tante Anna ging er zu Fuß. Oben im Treppenhaus an ihrer Wohnungstür angekommen, klopfte er leise und trat ein. In der Wohnstube war nur seine Großmutter, offenbar im Aufbruch begriffen.
"Grüß dich, Oma.", Atsche küsste sie zur Begrüßung auf den Mund und half ihr darauf in den Mantel.
"Richard. Gut, dass du kommst. Dann brauche ich Anna nicht allein lassen. Ich muss erstmal nach Hause, nach den Hühnern sehen und eine Kleinigkeit essen."
"Geht es dir wenigstens gut?"
"Ja, ja, mir schon, ja. Aber ..., na du wirst es selbst sehen. Sie liegt in der Schlafstube. Richard, ich muss los."
Im Schlafzimmer roch es nach Kampfer und alter Frau. Tante Anna hatte ein weißes langärmliges Nachthemd an, die Bettdecke war bis zur Brust hochgezogen und ihre Arme lagen seitlich neben ihr, fast so als gehörten sie nicht zu ihr. Von ihrer ehemals leichten Korpulenz war nichts geblieben, sie sah eingefallen aus und hatte einen gelben Schimmer auf der Haut.
"Hallo Tante Anna. Hier, ich habe dir ein paar frische Astern mitgebracht.", Atsche strich ihr über die kalte, schweißnasse Stirn. Die Blumen registrierte sie nicht.
"Richard, dass ich dich noch einmal sehen würde."
"Aber, aber, ich bin doch nicht aus der Welt. Wir werden uns noch oft sehen."
"Das glaube ich nicht, mein Junge. Mit mir geht es zu Ende."
"Nun, es geht dir im Moment nicht gut. Aber wir wollen doch im Frühjahr wieder in deiner Laube gemütlich Kaffee trinken, Omas berühmten Hefekuchen essen und ein Likörchen nehmen, oder nicht? Hoffnung gibt es immer."
"Nicht mehr für mich.", sie ließ den Kopf, den sie bis dahin noch mühsam, aus einer Art Höflichkeit, leicht angehoben hatte, auf das Kissen zurücksinken und sah mit leeren Augen an die Decke.
"Ich habe letztens die Rosen in deinem Garten zurückgeschnitten und mit Mist abgedeckt. Das ist zwar noch etwas früh, aber nun kann der Winter kommen.", Atsche zog einen Stuhl heran und setzte sich zu ihr.
"Richard, wie alt bist du jetzt?"
"Siebenundzwanzig."
"Doch schon. Sag, hast du immer noch keine Freundin? So ein ansehnlicher Junge wie du.", für ihren besorgniserregenden körperlichen Zustand konnte sie verhältnismäßig deutlich sprechen, wenn auch langsam.
"Damit habe ich es nicht eilig."
"Oder hast du noch nicht die Richtige gefunden?", genau über dieses Thema wollte Atsche am Allerwenigsten reden. Schon suchte er nach einer ausweichenden Antwort, doch als er in Tante Annas müde Augen sah, schämte er sich für sein Vorhaben, jetzt und hier nicht ehrlich zu sein. Seit Jahren hatte er mit niemandem darüber gesprochen, selbst mit seinen besten Freunden nicht.
"Doch, ja. Ich hatte die Richtige gefunden."
"Das ist aber schön, Richard. Wer ist sie? Du hast sie uns noch nicht vorgestellt."
"Ich, ähm, ... ich habe sie gehen lassen."
"Aber warum?"
"Mir hat der Mut gefehlt."
Читать дальше