"Schlimmer. Aber 'nem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul, oder?", jetzt war alles klar, so klar wie der Fusel in der schmucklosen Flasche.
"Hecki, du mieser Hund! Du hast mich auf den Arm genommen."
"Und du bist darauf reingefallen! Huh, huh.", dieser Drahtwurm amüsierte sich köstlich und musste die Brille abnehmen, um sich die Augen zu wischen. Atsche war es mehr als recht, entpuppte sich Hecki letztlich doch als Mensch.
"Und was ist sonst noch in deiner Schatztasche?"
"Noch eine Flasche Blauer Würger und ein paar Kriminalromane. Das mit den Büchern war also nicht gelogen."
"Hecki, soll ich dir mal was sagen?"
"Sag es."
"Ich glaube, das ist der Beginn einer langen Freundschaft."
"Na dann. Prost Atsche."
"Prost Hecki."
Der Nachteil ihres Dienstes entpuppte sich langsam als Vorteil: Alle, die hier wohnen würden, mussten an ihnen vorbei, wobei das Interesse der Wachhabenden vorerst nur dem weiblichen Anteil der Karawane galt. Beide kamen frisch von der Armee und waren in einer bestimmten Beziehung verdammt ausgehungert. Und das Material, das sich hier präsentierte, gab ihrer Fantasie ausreichend Spielraum. Gerade kamen drei Mädels durch, von denen jeder von ihnen jede Einzelne sofort auf seine Favoritenliste setzte. Die Grazien grüßten freundlich und waren in aufgeräumter Stimmung.
"Ich werd' nicht wieder. Wenn das so weiter geht, krieg' ich'n Koller.", und es ging so weiter. Beide mussten sich Mühe geben, den Mund nicht offen zu behalten.
Aber was sie jetzt da draußen im Schein der Abendsonne in einem leichten Sommerkleid, bei jedem Schritt wippend, auf sich zukommen sahen, ließ sie vollends verstummen: ein Mädchen mit langen gewellten schwarzen Haaren, einem natürlich braunen Teint, feinen schwarzen Brauen, einem Profil wie eine Inka-Prinzessin und Augen wie ein Reh: eine Latina wie gemalt! So etwas kannte Atsche nur aus dem Fernsehen. Bisher hatte er stets auf einen festen, strukturierten Kussmund gestanden und daran würde sich auch nichts ändern. Allein bei diesem Mädchen revidierte er seine Meinung radikal und vollständig: Kein anderer Mund würde besser zu ihr passen als ihre weichen, konturlosen, rosafarbenen Lippen. Klack, klack, klack machten ihre Absätze auf dem Steinfußboden des Flurs, als sie an ihnen vorbeispazierte. Sie lächelte den beiden staunenden Gestalten hinter der albernen Pförtnerklappe zu, als würden sie sich schon lange kennen, winkte freundlich, sagte "Hola" und schon war sie an ihnen vorbei. Atsche hielt es nicht mehr auf seinem Stuhl. Entgegen seiner angeborenen Scheu gegenüber dem anderen Geschlecht schnellte er hoch, riss die Tür ihres Verhaus auf und passte das Mädchen, Hecki im Nacken, gerade noch auf dem Flur ab.
"Hallo, wer bist du denn?"
"Ich heiße Rosana, ihr könnt auch Rosa zu mir sagen."
"Ich heiße Richard, aber alle nennen mich nur Atsche."
"Ja, das kann ich mir gut merken. Im Spanischen buchstabieren wir das 'H' wie 'atsche'.", Hecki drängte sich an Atsche vorbei.
"Hallo Rosa, ich bin Hecki. In welcher Seminargruppe bist du denn?"
"Ich bin in Seminargruppe 7."
"Na, wenn das kein gutes Zeichen ist. Dann sind wir drei in derselben Seminargruppe. Was machst du heute noch?", kam Hecki gleich zur Sache.
"Ich weiß nicht, ich kenne ja niemanden."
"Wenn du weiter nichts vorhast, kannst du uns ein bisschen Gesellschaft leisten. Wir müssen noch bis zehn hier sitzen.", Hecki hatte Atsche wohl doch einiges voraus.
"Ja, das wäre nett. Aber ich muss erstmal auf mein Zimmer, meine deutsche Zimmerkollegin kennenlernen. Vielleicht komme ich nachher bei euch vorbei. Also dann, chau.", sie winkte wie ein Schulkind und weg war sie. Die beiden Diensthabenden standen eine Weile wortlos nebeneinander und sahen auf die Ecke, hinter der Rosana eben verschwunden war, so als ob sie dort gleich wieder zum Vorschein kommen würde. Als Atsche wiedererwachte, fasste er Hecki bei beiden Schultern und schüttelte ihn:
"Mann, hast du das gesehen? Das ist doch der Hammer!"
"Die kommt heute nicht wieder."
"Sie hat doch 'vielleicht' gesagt."
"Dieses 'vielleicht' kenne ich. Mensch Junge, bleib ruhig. Wir sind in derselben Seminargruppe, die sehen wir jeden Tag."
"Sag mal Hecki. Ich habe da eine eher philosophische Frage."
"Oh fein. Ich gebe auch gern philosophische Antworten."
"Glaubst du, hier fällt auch für einen Trottel wie mich etwas ab?"
"Junge, bist du blind? Hast du nicht geschnallt, was hier vorbeigelaufen ist? Wir werden vögeln, was das Zeug hält."
"Meinst du echt?"
"Aber sicher. Und wir werden noch heute damit anfangen, gleich nach dem Dienst."
"Wie soll das denn gehen?"
"Ich habe für nachher eine Spontanfete auf meinem Zimmer organisiert."
"Ey, sauber. Das nenn' ich mal Mitdenken."
"Das sehe ich auch so. Na, ich denke, das ist ein würdiger Anlass, noch einen gehörigen Schluck zu nehmen.", der Würger wurde wieder hin- und hergereicht.
"Ähm, ... , da wir gerade beim Thema sind: Wann war denn dein erstes Mal?"
"Boah, das war überirdisch, mit vierzehn.", Hecki machte in der Erinnerung daran jetzt noch große Augen.
"Mit vierzehn? Das gibt es nicht! In dem Alter habe ich gerade mal angefangen, mir einen runterzuholen - in der Badewanne."
"Und wie lange ist es bei der Badewanne geblieben?"
"Bis ich achtzehn war. Aber erzähl mal, wie war das bei dir?"
"Im Ferienlager. Da war so'ne kleine süße Schnecke, weiß nicht, was die an mir gefressen hat. Jedenfalls waren nachmittags alle am Strand und wir beide hatten uns verabredet, Unwohlsein vorzutäuschen. Ich hätte im Leben nicht geglaubt, dass da wirklich was läuft, maximal ein bisschen küssen. Aber die Kleine war für ihr Alter schon, wie soll ich sagen, nicht unbeleckt. Lange Rede kurzer Sinn. Mit einem Mal lag ich drauf und die Post ging ab. Ich wusste gar nicht, wie mir geschah. Ich weiß nur noch, dass ich von Anfang an geschwitzt habe wie ein Schwein. Das war klasse."
"Hast du ein Glück. Das hätte mir auch gefallen. Ich war einfach immer zu blöd."
"Wie war denn nun dein erstes Mal?"
"Wie gesagt, erst mit achtzehn. Feier im Internat. Die Feier war um halb zehn Schluss, Zapfenstreich war immer um zehn. Auf der Fete war eine Siebzehnjährige, die wollte angeblich noch was in Physik von mir erklärt haben, bevor Nachtruhe war. Wir beide auf mein Zimmer, da war nicht mehr viel mit Physik. Ich mache das Licht aus, da liegt sie schon im Bett. Ich rauf auf die Mutti, mir nur die Hose aufgeknöpft und ihr den Rock hochgeschoben. Da geht das Licht wieder an - Seppel, mein Mitbewohner kommt rein: 'Atsche, bist du verrückt. Die alte Hexe ist schon auf dem Flur'. Die 'Hexe' war die Internatsleiterin, die gleich alle Zimmer kontrollieren würde. Es wurde ein Wettlauf mit der Zeit. Seppel aufgepasst, wie weit die 'Hexe' ist, aus dem Zimmer rausgeguckt, reingeguckt: 'Beeil dich.', rausgeguckt, reingeguckt: 'Verdammt, nur noch zwei Zimmer.', ich rammele weiter, und das alles bei Festbeleuchtung. Dann ist mir endlich einer abgegangen. Wir beide sofort raus aus dem Bett, die Klamotten hochgezogen und gleich am Schreibtisch einen auf Physik lernen gespielt, total verschwitzt. Das war's, das war alles. Ich war dermaßen enttäuscht. Irgendwie hatte ich mir das epochaler vorgestellt. Dabei war es nicht viel anders als Wichsen, nur wärmer. Aber egal, jetzt war ich endlich ein Mann und konnte mitreden."
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