"Das ist schade, mein Junge, sehr schade. Und, fehlt sie dir?", Tante Anna hüstelte leicht.
"Ich bin noch jung, es wird wieder vergehen. Die Zeit heilt alle Wunden.", wie altklug er sich anhörte.
"Das hoffe ich, das hoffe ich sehr für dich."
"Keine Sorge, das wird wieder."
"Ach, Jungchen. Du kannst das noch nicht wissen: Die Zeit heilt nur die kleinen Wunden."
"Du meinst den Krieg?"
"Nein, ... das Herz."
"Ja, der gute Onkel Otto. Jedes Mal, wenn ich im Schrebergarten bin, fallen mir seine Geschichten ein.", Anna machte Anstalten, als wollte sie sich etwas aufrichten. Atsche rückte ihr das Kissen zurecht, damit ihr Kopf etwas höher lag.
"Ist deine Oma noch da?"
"Nein, wir sind ganz allein. Aber ich bleibe noch eine Weile.", Anna nickte kaum wahrnehmbar in Richtung ihrer Bettkante, was er als Aufforderung verstand, dichter an sie heranzurücken.
"Als ich ein junges Mädchen war, da hatte ich noch nicht mit Otto angebändelt ..., hier auf dem Gut war eine Kompanie Kavallerie für ein paar Monate einquartiert. Das war eine Aufregung im Dorf, sage ich dir.", sie lächelte, wie jemand, dem eine schöne Erinnerung ins Hirn schießt. "Die einfachen Soldaten durften natürlich abends nicht ausgehen. Viel war hier auch nicht los. Aber die drei Offiziere sind abends immer im Dorf auf und ab geritten und auch mal in der Kneipe eingekehrt. Die Offiziere waren noch blutjung und sehr schneidig in ihren akkuraten Uniformen - einer ganz besonders. Ja, und dann war das Erntefest und der Gutsbesitzer hat auch die Offiziere dazu eingeladen. Ein Offizier hat mir immer heimliche Blicke zugeworfen. Aber wir haben den ganzen Abend nicht miteinander geredet. Nur am Ende hat er mir einen Zettel zugesteckt. Er hieß Herwarth. Wir haben uns immer heimlich getroffen, das war nicht so einfach in so einem kleinen Dorf, zwei Monate lang. Dann musste die Kompanie weiter.", Tante Anna leckte sich ihre trockenen Lippen. Mit dem Kopf deutete sie auf die Tasse auf ihrem Nachttisch und Atsche gab ihr etwas von dem inzwischen kalten Kamillentee zu trinken.
"Herwarth wollte mich mitnehmen. Er wollte, dass wir heiraten. Er hatte schon alles geplant - er war in allem sehr korrekt. Aber, ich konnte doch meine Mutter nicht allein lassen. Und so weit weg von hier. Das hat mir Angst gemacht. Ich habe ihm gesagt, dass ich das nicht kann.", ihre Stimme war zum Ende hin immer leiser geworden. Nach einer kurzen Pause, in der sie nicht zu atmen schien, holte sie tief Luft und fuhr fort: "Und dann waren sie weg. Ich habe wochenlang geweint, ... ja, und heute? ... bis heute habe ich ihn nicht vergessen. Manchmal träume ich noch von ihm, wie er an meinem Fenster vorbeireitet. Nein, er kommt mich nicht holen, er reitet nur vorbei und ich kann nicht mit. Es ist immer das Gleiche: Er reitet vorbei, winkt mir zu und ich kann mich nicht bewegen. Ach, hätte ich damals doch nur den Herwarth genommen, ... dann wäre alles anders gekommen. Ganz anders.", diese Sätze hatten sie viel Kraft gekostet und sie schloss die Augen. Ihr schwerer Atem ließ erkennen, dass sie nicht schlief.
Atsche war schockiert! Es erschien ihm völlig absurd, dass zwei Monate im Leben so lange und so intensiv nachwirken können. Niemand in der ganzen Verwandtschaft hatte davon gewusst. Da hatte diese Frau zwei Kriege überstanden, zwei Kinder großgezogen, war scheinbar zufrieden mit sich und der Welt, um nun auf dem Totenbett eine Mutlosigkeit zu bereuen, die ihr gesamtes Leben schlagartig sinnlos erscheinen lässt? Das machte Atsche panische Angst. Sollte es ihm in seinen letzten Minuten ebenso ergehen? Würde auch für ihn alles Erlebte wertlos werden? Und das alles nur wegen dieser einen, seiner bisher einzigen, Feigheit?
Tante Anna starb zwei Tage später, friedlich eingeschlafen, wie man beschwichtigend sagt, obwohl weder der Friede noch der Schlaf das Geringste mit dem Endresultat gemein haben - der absoluten Leere.
Atsche saß mit seinen Eltern am Frühstückstisch. Das Telefon klingelte, seine Mutter nahm ab. Es war ein kurzes Gespräch.
"Hans.", sagte sie zum Vater. "Der Leichenbestatter ist bei Tante Anna. Sein Kollege ist ausgefallen und er kann sie nicht allein die Treppe heruntertragen. Gehst du mal helfen?", der Vater fuhr erschrocken herum.
"Ich? Nein."
"Hans!"
"Nein, ... nein, sowas kann ich nicht."
"Aber irgendjemand muss helfen."
"Schon gut, ich gehe.", sagte Atsche ruhig und stellte seine Teetasse beiseite. Er ging in den Flur, zog seinen Mantel über und verließ das Haus. Dieses Mal fiel das Blumenpflücken aus.
Tante Anna wohnte im ersten Stock, es ging eine schmale Treppe und eine enge Kehre hinauf. Im Schlafzimmer wartete der Bestatter mit herabhängenden Armen. Die Bettdecke war zur Seite geschlagen, Anna Wagner hatte noch immer ihr weißes Nachthemd an. Bei Atsches letztem Besuch hatte er nur ihr Gesicht und ihre Arme gesehen, ihr Körper war unter dem schweren Federbett kaum zu erahnen gewesen. Dass sie jetzt so unfassbar schmal war, hatte Atsche nicht erwartet. Er war über sich selbst erstaunt: Er hatte keinerlei Empfindung. Das war nicht mehr Tante Anna. Zu oft hatte er bei Tieren gesehen, wie von einem Moment auf den anderen das Licht ausging und dann blieb nur ein seelenloser Berg Fleisch. Was hier lag, war weniger: ein Bündel aus Haut und Knochen. Wenn ein Verstorbener noch warm ist, ist es etwas anderes. Man kann seine warme Hand halten, man kann ihn streicheln und küssen, als würde die Seele sich Zeit lassen und erst in ein paar Stunden nach und nach entweichen. Das ist ein langsamer Abschied, auch wenn man weiß, dass hinter diesem Gesicht niemand mehr zuhört, wie bei einem Schlafenden. Aber hier lag die Sache anders. Anna war steinkalt und nur noch ein Haufen Materie, mehr nicht - auch wenn dieser Haufen in seinem Aussehen entfernt an Tante Anna erinnerte.
"Wollen wir?", fragte der Bestatter.
"Ja, klar.", antwortete Atsche, als handele es ich um ein Möbelstück. Es gab keine Trage oder ein anderes, dem Umstand angemessenes Behältnis. Sie trugen Anna im Bettlaken die enge Treppe hinunter. Anna war so leicht, dass Atsche sich fragte, warum der Bestatter überhaupt seine Hilfe gebraucht hatte. Unten angekommen legten sie sie auf eine Bahre und schoben sie in den Leichenwagen. Der Bestatter schloss die Wagentür.
Atsche glaubte nicht an ein Leben nach dem Tode. Das machte ihm mitunter selbst Angst, aber jetzt tröstete es ihn. Tante Anna musste also nicht diese unsinnige Bürde, die sie ein Leben lang gequält hatte, mit hinübernehmen. Es war vorbei.
2. Die alte und die neue Welt
Der zehnte September war ein sonniger, windstiller Spätsommertag und ein Sonntag obendrein. Für Atsche ein denkwürdiges Datum: Endlich war er Student. Ein völlig neuer Abschnitt in seinem Leben begann: kein Gefängnis wie bei der Armee, kein Eingesperrtsein im Internat, keine Abhängigkeit vom elterlichen Haushalt. Er fühlte sich erstmals in seinem Leben unabhängig und ja, das darf man so sagen: Frei! In den kommenden fünf Jahren würde er nichts weiter zu tun haben, als die Prüfungen recht oder schlecht zu bestehen und einigen Formalitäten zu genügen. Das erschien ihm lächerlich wenig. Darüber hinaus könnte er tun und lassen, was er wollte. Von vielen Älteren hatte er gehört, dass das Studium die schönste Zeit ihres Lebens gewesen sei, und wenn er sich etwas fest vorgenommen hatte, dann, dass auch er dies einmal sagen würde.
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