Er atmete tief durch und blickte verzweifelt um sich. Es war stockdunkel, es musste weit nach Mitternacht sein. Egal, er hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Am heutigen Augusttag war es schon den ganzen Tag über schwül und unglaublich heiß gewesen. In den letzten Stunden hatte sich ein Gewitter zusammengebraut, das sich nun demnächst zu entladen drohte. Weit entfernt konnte man bereits einige Blitze erahnen und er glaubte auch, Donner zu hören. Eins – zwei – drei -… zählte er automatisch mit, wie er es von seiner Großmutter gelernt hatte. So konnte man die Entfernung in Kilometern errechnen, wie weit das Gewitter noch entfernt war. An was für einen Schwachsinn denke ich denn jetzt? Wen interessiert das? Bleib ruhig und versuche, nicht durchzudrehen! Wieder hatte er das Bild seiner Großmutter vor Augen, wie sie in ihrer bunten Schürze am Herd stand, im Topf rührte und ihn anlächelte. Er konnte sein Lieblingsessen sogar riechen! War er jetzt völlig verrückt geworden? Reiß dich gefälligst zusammen!
Hier standen sie nun im Dickicht des Alzufers, das nur wenige Meter von ihm entfernt war. Er war sich sicher, dass das hier die Alz war, denn das Werk Gendorf war unverkennbar noch in Sichtweite. Er zwang sich, ruhig zu atmen, was ihm immer schwerer fiel. Weit und breit war niemand zu sehen. Wo sind denn die Hundebesitzer und Nachtschwärmer, wenn man sie brauchte? Hier um Hilfe zu rufen war aussichtslos, trotzdem musste er es versuchen. Er schrie so laut er konnte und versuchte schließlich, vor diesem Irren wegzulaufen. Dabei war ihm jetzt vollkommen egal, wenn er schießen würde, denn er würde sowieso irgendwann schießen, das war ihm vollkommen klar. Er rannte um sein Leben, stolperte und der Mann zog ihn problemlos wieder auf die Füße. Sieh ihm in die Augen und lächle. Hatte er das nicht irgendwann mal gelernt? Egal, er versuchte es, aber der Mann sah ihn nicht einmal an, schubste ihn und deutete mit der Waffe, dass er weitergehen soll.
Dann hörte er nur noch zwei aufeinanderfolgende Schüsse und spürte einen heftigen, stechenden Schmerz.
„Nein danke, ich möchte nichts essen. Sag mir endlich, was du von mir willst,“ sagte Werner Grössert genervt. Seine Mutter hatte ihn um ein dringendes persönliches Gespräch gebeten, was bis dato nur sehr selten vorgekommen war. Vor allem bestand sie auf einen neutralen Ort weit außerhalb von Mühldorf am Inn, wo sie jeder kannte. Werner schlug den Biergarten am Rande von Altötting vor, wo er tags zuvor mit seiner Frau gewesen war und vorzüglich gegessen hatte. Werners Mutter war hier im Biergarten in Altötting in ihrem sündhaft teuren Kostüm, dem vielen funkelnden Schmuck und der ganzen Erscheinung völlig fehl am Platz, ebenso wie der 39-jährige Werner Grössert selbst, der auch zur Arbeit bei der Mordkommission Mühldorf am Inn immer korrekt gekleidet im Anzug erschien, auch an solch heißen Tagen wie heute. Das Gewitter der letzten Nacht hatte keinerlei Abkühlung gebracht, denn es war hier in der Gegend mit Donner und Blitz nur vorbeigezogen. Knapp dreißig Kilometer weiter hatte das Unwetter hingegen riesige Schäden angerichtet. Die Landkreise Mühldorf und Altötting waren beinahe komplett verschont worden, aber die tropischen Temperaturen der letzten Tage setzten sich nun unvermittelt fort. Die Bedienung brachte Wasser in Bierkrügen, was Frau Grössert mit einem Naserümpfen zur Kenntnis nahm. Sie hasste es, aus solchen Gläsern zu trinken, aber das war jetzt nicht wichtig.
„Ich möchte zuerst klarstellen, dass das Gespräch hier unter uns bleibt. Auch zu deinem Vater kein Wort,“ sagte Frau Grössert bestimmt, während sie sich den Schweiß von der Stirn tupfte und sich dabei nervös umblickte. Sie saßen an diesem heißen Augusttag völlig alleine hier in der Ecke und konnten ungestört reden.
„Meinetwegen.“
„Gut, dann verlasse ich mich darauf. Meine Zeit ist knapp und ich komme daher gleich auf den Punkt. In den letzten Wochen werden dein Vater und ich terrorisiert.“ Sie atmete tief durch und ließ die Worte wirken. Werner Grössert schien keineswegs beeindruckt oder erschreckt, sondern musste schmunzeln.
„Übertreibst du da nicht ein wenig?“
„Keineswegs. Dein Vater bekommt seit geraumer Zeit merkwürdige Post. Aber was viel schlimmer ist: Jemand hat uns die Steuerprüfung auf den Hals gehetzt. Stell dir das vor: Die Steuerprüfung in unserer Kanzlei! Wenn sich das herumspricht!“
Die Rechtsanwaltskanzlei Grössert wurde bereits in der dritten Generation in Mühldorf geführt und genoss einen ausgezeichneten Ruf. Natürlich war das Ehepaar Grössert, beide Juristen, nicht glücklich darüber gewesen, als ihr einziger Spross Werner seinerzeit nicht Jura studieren wollte, womit die Nachfolge der Kanzlei gesichert wäre, sondern eine Karriere bei der Polizei vorzog. Frau Grössert hatte ihren Sohn sogar angefleht, diese Entscheidung zu überdenken und rückgängig zu machen, bis sie schließlich aufgab und nur noch einen losen Kontakt zu ihrem Sohn pflegte. Seitdem ließ sie ihn bei jeder Gelegenheit deutlich spüren, wie enttäuscht sie von ihm war. Dr. Grössert war noch drastischer mit seiner Reaktion. Er sprach seitdem nicht mehr viel mit seinem Sohn, mied ihn, wo er nur konnte, und behandelte ihn wie einen Fremden.
„Nun mal langsam. Du sagtest, Vater bekommt merkwürdige Post. Seit wann erlaubt dir Vater, dass du seine Post liest?“
„Das tut doch jetzt hier nichts zur Sache. Mein Gott, verstrick dich doch nicht in Kleinigkeiten, sondern fokussiere dich auf das Wesentliche. Ich habe die Post aus dem Papierkorb gefischt und grob überflogen. Kein Wort davon zu deinem Vater, du hast es mir versprochen! Ich sehe, dass du mich noch nicht ganz verstanden hast, denn um diese Post geht es nicht primär. Das war nur eine Information am Rande, damit du den Ernst der Lage verstehst und mir glaubst, dass es jemand auf uns abgesehen hat.“
„Raus mit der Sprache, was willst du von mir?“
„Du bist doch bei der Polizei - tu etwas und hilf uns! Wende diese Steuerprüfung von uns ab!“ Frau Grössert nahm den riesigen Bierkrug mit beiden Händen und trank ein Schluck Wasser. Sie war völlig aufgebracht, die ganze Sache nahm sie sehr mit.
„Wie stellst du dir das vor, Mutter? Ich bin bei der Mordkommission. Wie sollte ich eine Steuerprüfung aufhalten?“
„Aber du bist Polizist und kannst deinen Einfluss geltend machen. Du hast doch meines Wissens nach sogar einen Freund beim Finanzamt. Dieser Bernd Sowieso arbeitet doch dort und hat es trotz seiner niederen Herkunft ziemlich weit gebracht, wie ich gehört habe. Ich dachte, du hast in den letzten Jahren durch deine Arbeit bei der Polizei darüber hinaus eventuell Menschen kennengelernt, die in diesem Falle helfen können. Natürlich würden wir uns das einiges kosten lassen.“
„Moment! Du willst, dass ich Menschen besteche, um diese Steuerprüfung abzuwenden? Bist du jetzt vollkommen verrückt geworden?“ Werner Grössert war wütend und enttäuscht, denn das, was seine Mutter hier verlangte, kam für ihn auf keinen Fall in Frage. Er war nicht bestechlich und würde auch niemals auf die Idee kommen, irgendjemanden zu bestechen.
„Versteh doch, Junge! Wir können es uns in unserer Position nicht leisten, dass Interna aus unserem Privatleben oder sogar aus unserer Kanzlei in falsche Hände gelangen. Man weiß doch, wie so etwas läuft. Wenn Behörden eine Durchsuchung vornehmen, finden die immer irgendetwas, auch wenn es nur Kleinigkeiten sind. Ich möchte gar nicht an das Getuschel der Leute denken, die ganz bestimmt Wind von der Sache bekommen, irgendjemand quatscht doch immer! Außerdem ist Mühldorf im wahrsten Sinne des Wortes ein Dorf. Hier geschieht doch nichts, ohne dass es gleich die Runde macht. Nicht auszudenken, wenn auch noch die Presse auf uns aufmerksam wird. Es gibt viele Neider, die nur auf eine Gelegenheit warten, um uns zu schaden. Nein, Junge, du musst etwas unternehmen, und zwar umgehend. Wir sind doch eine Familie und müssen in schweren Zeiten zusammenhalten.“
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