Trautel Melanchful strich Kishou über den Kopf und nahm sie in die Arme.
„Da waren manche Zeiten, als es dir so erging.
Zeiten des Verweigerns, wo doch keine Kraft dafür war.
Zeiten der Flucht, wo es doch kein Entrinnen gab,
und Zeiten des Kampfes, der unverstanden
doch nicht zu gewinnen war.
Vieles hast du erfahren,
in all der Zeit.
Schon weit führte dein Weg,
in den vergangenen Zeiten
Alles wirst du erinnern,
in der kommenden Zeit.
Nichts wird dich nunmehr aufhalten können.
Dies ist die Zeit.“
Kishou hörte nicht, was die Alte sagte. Sie hätte wohl auch nichts davon verstanden. Es waren nicht die Worte Trautel Melanchfuls, die auf seltsame Weise in sie eindrangen. Es war eine andere Kraft, die von den Worten getragen wurde, wie ein Wind den mächtigsten Vogel aufsteigen lässt.
In ihr waren nur noch Empfindungen. Eine ihr bis dahin unbekannte unendliche Ruhe begann sich in ihr auszubreiten. Die Ruhe eines mächtigen Berges, der in Erfahrenheit der vielen Zeiten alles Wissen in sich barg. Eine unüberwindliche Kraft, wie sie nur in der tiefen Ruhe der Erfahrenheit der Zeiten aufgehoben sein kann. ... Nein, es war eigentlich nicht wirklich so, dass Trautel Melanchfuls Arme sich schützend um Kishou legten – vielmehr barg Kishou Trautel Melanchful in ihre schützenden Arme ... War es jemals anders gewesen?
„Entschuldige!“, hauchte sie Trautel Melanchful ins Ohr. „Es sind so viele Gefühle in mir. Ich habe noch keine Macht über sie.“
„Ja!“, flüsterte Trautel Melanchful.
Es dauerte noch eine Zeit, bis die Alte sie wieder aus ihren Armen entließ. Kishou stand seltsam still und ohne jede Bewegung, und ihr Blick schien in die Unendlichkeit zu fallen. Trautel Melanchful nahm das seidene Band mit dem Schlüssel und legte es ihr um den Hals.
Kishou zuckte etwas zusammen, als der schwere Schlüssel an ihre Brust fiel. Etwas irritiert, als wäre sie aus einem Tagtraum erwacht, schaute sie auf ihn herab. „Du hast mir von der Sippe der Chemuren erzählt, und dass sie mir helfen werden, ins Vierte Tal der Vierten Ebene des Vierten Droms zu kommen. Wo werde ich die denn finden?“, fragte sie noch immer etwas abwesend, während einer ihrer Finger prüfend über den bartlosen Schafft des Schlüssels strich.
„Du wirst zur rechten Zeit auf sie treffen, mach dir darum keine Gedanken. Das erste Drom, das du durchqueren wirst, ist das Drom der Ky. Es wird dir fremd erscheinen, denn noch ist keine Erinnerung in dir von diesem Land, und du kennst nicht sein Geheimnis. Doch denke immer daran: Man fürchtet nur solange etwas, wie man es nicht versteht! Dort, in dessen Erster Ebene des Ersten Tals wirst du auf Boorh treffen!“
Kishous große, schwarze Augen klappten nach oben. „Das ist einer von der Sippe der Chemuren?“, vergewisserte sie sich.
„Ja!“, bestätigte Trautel Melanchful.
„Wie kann ich ihn erkennen?“
„Er wird dich erkennen!“ Trautel Melanchfuls Gesichtsausdruck hatte plötzlich etwas regelrecht Verschmitztes an sich, was nur höchst selten bei ihr vorkam. „Sei nicht ungerecht mit ihm, er ist zuweilen etwas ungestüm ...“
„Wie meinst du das?“, wollte Kishou wissen.
„Nun ja – du wirst sehen.“ wich die Alte aus. „Er ist sehr stark, und du wirst sehr viel von ihm erfahren!“
„Aber der ist doch in Ordnung, oder?“, fragte Kishou nun doch etwas beunruhigt – das verschmitzte Lächeln Trautel Melanchfuls war ihr natürlich nicht entgangen.
Die Alte kicherte nun schon fast. „Du brauchst dir wirklich keine Sorgen zu machen. Und wenn ich dich so anschaue ...“ Sie nahm Kishou bei den Schultern und betrachtete sie wohlwollend. „Es wird nichts geben, was er nicht riskieren würde, um dich zu schützen. Du kannst ihm vertrauen!“. Sie machte sich nun daran, ein Bündel für Kishou zu schnüren, das sie bequem um der Schulter tragen konnte.
Etwas resigniert wollte sich Kishou daran machen, den Tisch abzuräumen. Jede Frage, die sich ihr stellte, schienen seit einigen Tagen eher tausend neue Fragen zu erzeugen, als auch nur eine davon wirklich zu beantworten ...
„Lass es nur stehen!“, meinte Trautel Melanchful. „Es wird mich eine Weile an Dich erinnern!“
Die groben Steine, die ursprünglich wohl einmal einen Weg durch das hohe Gras des Gartens bereitstellten, waren lange nicht mehr sichtbar. Nur die Füße spürten, dass hier wohl einmal fester Boden gewesen sein musste, und ertasteten sich den Weg durch das üppige Geflecht. Als dann bald schon die alles umspannende Hecke des Gartens zwischen Büschen und Bäumen in der Ferne auftauchte, war nicht mehr schwer zu erraten, wohin der unsichtbare Weg führte.
Wie eine unüberwindliche Mauer kündigte sie sich in ihrer dichten und klaren Gradlinigkeit an – das war wirklich erstaunlich, zumal weder Trautel Melanchful noch Kishou jemals das wachsende Ungefüge des Gartens versuchte aufzuhalten. Sie erfreuten sich vielmehr an der scheinbar planlosen Eroberung der Natur in ihrer kleinen Welt. Es gab immer wieder Neues zu entdecken, und nichts blieb, wie es war. Im Laufe der Zeit hatte allerdings die Üppigkeit sichtbar nachgelassen, weil der große Tümpel des Gartens immer weniger Wasser beherbergte.
Hinter dem Haus gab es einige Beete mit Gemüse, und sogar eine kleine Parzelle mit verschiedenen Getreidesorten war dort zu finden. Auch drei Ziegen waren da, um all das mussten sie sich natürlich kümmern – und das war schon aufwendig genug …
'Wirkliche Grenzen sind immer klar und eindeutig!', sagte Trautel Melanchful einst zu Kishou, als sie endlich lange genug in dieser Welt war, um ihrer Verwunderung über dieses und jenes innerhalb des Überschaubaren Ausdruck zu verleihen, '... und dies ist eine wirkliche Grenze!', hatte sie geschlossen.
Es gab zu jener Zeit noch tausenderlei andere Fragwürdigkeiten in der kleinen Gartenwelt, und so genügte diese Antwort für’s Erste. Vielleicht war es aber auch schon die tiefe innere Ahnung der Bedrohung, die Kishou damals nicht weiter fragen ließ. Bestimmte Erfahrungen sind nicht daran gebunden, wie lange man in einer Welt ist – jedenfalls hatte sie nie wieder nach dem wunderlichen Wachstum der Hecke gefragt.
Kishous Schritte verkürzten sich, je näher sie der Hecke kamen, doch ihre Anzahl bis zum Erreichen der Grenze sollten immer noch entschieden zu gering bleiben, wie sie befand. „Vielleicht ... ist das Tor ... ja schon wieder offen?“, ließ sie sich nun etwas zaghaft vernehmen, während ihre Füße konzentriert, aber nicht immer mit der benötigten Portion Glück damit beschäftigt waren, die groben Steine des Weges zu treffen.
„Nein!“, war nur das unmissverständliche Echo. Trautel Melanchful hatte weniger Probleme, den verlorenen Pfad einzuhalten. Entweder, sie hatte ihn noch gut in Erinnerung, oder aber es war ihre seltsame Wendigkeit und Behändigkeit, die in keinem Verhältnis zu ihrer Erscheinung stand; und die, nachdem sie in der letzten Zeit stetig abzumagern schien, seit der Nacht des Traums von Kishou sichtbar und ohne Zweifel wieder dramatisch zunahm.
Es war schon fast ein Balanceakt, sich auf der Spur der lockeren und zuweilen gar inzwischen übereinander liegenden Steine zu halten, ohne zu stolpern, oder sich auf schmerzhafte Weise die Füße anzustoßen. Kishou musste sich sehr konzentrieren, und es war schon erstaunlich, dass sie dabei immer noch reden konnte.
„... aber ... vielleicht ist der Ausgang ja auch schon ... zugewachsen, wie der Weg hier, dann kann ... ich gar nicht raus!“
„Dieser Durchlass wächst niemals zu!“, antwortete Trautel Melanchful.
„Hab’ ich auch nichts vergessen?“ Kishou war stehengeblieben und schickte sich schon an, ihr Bündel von der Schulter zu ziehen.
„Nein, du hast nichts vergessen!“ Trautel Melanchful schob sie sanft weiter.
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