Wenn ich nur mit jemandem tauschen könnte! Ihr genügte das Bild auf der Leinwand. Wozu dieses herrliche, sorgenfreie Leben hier aufgeben, wo es ihr gut ging und sie alles besaß, wovon andere Mädchen in ihrem Alter nur träumen konnten? Teure Kleider, zwei riesige Zimmer, ein eigenes Bad, eine eigene Lounge im Kino, die nur für ihre Familie reserviert war…
Die Wanduhr schlug laut und dröhnend die volle Stunde, ihr Gong hallte durch das Zimmer. Patty zuckte zusammen. Jeden Augenblick konnte es soweit sein. Vielleicht gab es noch einen letzten Ausweg, vielleicht bekam ihr Vater ja noch ein Einsehen! Ihr Vater – ihr letzter Strohhalm, an den sie sich klammern konnte, weil er viel nachgiebiger und weicher war als Rachel. Entschlossen warf Patty den Kopf zurück, ihr nach außen geföhntes Haar flog mit der Bewegung mit. Auch, wenn sie vor kurzem erst vierzehn geworden war, so besaß sie doch dieselben Eigenschaften wie ihre Mutter – nämlich Starrsinn und eisernen Willen und bisweilen sogar die gleiche unnahbare, schier unerträgliche Gefühlskälte.
Das Frühstück schmeckte Patty nicht und sie kaute lustlos darauf herum, bis sie den Teller schließlich beiseiteschob und wortlos das Speisezimmer verließ. Unter Louisas hartem Blick war ihr nichts anderes übriggeblieben, als die letzten Krümel doch noch zusammenzukratzen, denn die Haushälterin hätte es fertiggebracht und sich bei Rachel beschwert. Noch nie hatte Patty sich vom Leben derart ungerecht behandelt gefühlt. Es kam ihr beinahe vor, als bedeutete dies das Ende jeglicher Zukunftsaussichten. Sie strich sich den Stoff ihres Designerkleides zurecht und schlich hinaus in die Eingangshalle.
In der Zwischenzeit hatten sich dort die Koffer und Reisetaschen gestapelt, gefüllt mit dem Wenigen, was sie von all ihrem Besitz mitnehmen konnten und Patty stand eine Weile davor, um sie anzustarren. Auf einmal begann Rachels herrische Stimme aus dem oberen Stockwerk nach unten zu dringen. Wahrscheinlich bekam ihre dämliche, zwei Jahre ältere Schwester gerade wieder einmal eine Standpauke zu hören, weil sie zum einen nicht fertig war mit Packen und zum anderen wieder irgendetwas angestellt hatte, ohne es überhaupt zu bemerken.
Patty seufzte. Eigentlich wäre es überhaupt kein Problem, wenn ihre Eltern sie und Louisa alleine hier zurücklassen würden. Schließlich musste sich ja trotz allem jemand um die Villa kümmern, auch wenn niemand für ein Jahr darin wohnen würde. Die kostbaren Möbel würden mit Tüchern abgedeckt werden, um sie vor Staub und Schmutz zu schützen und die Blumenbeete blieben für einen Frühling ohne die prächtige Farbenpracht, weil Rachel sich das Geld für den Gärtner sparen wollte. Wer wusste, ob Louisa alleine, ohne Beaufsichtigung in der Lage sein würde, sich um alles anständig zu kümmern? Patty betrachtete sich im mannshohen Garderobenspiegel und überprüfte den Sitz ihrer Frisur. Eigentlich wäre sie durchaus eine würdige Vertretung für den Rest ihrer Familie, wie sie fand.
Eine Autohupe riss sie wüst aus den schönen Überlegungen. Die schwere, geschnitzte Haustür stand weit offen und am Ende der fünf Stufen parkte soeben das bestellte, schwarze Taxi ein. Neben ihren drei eigenen Gepäckstücken blieb Patty stehen und starrte ihrem Vater finster entgegen, der soeben herein eilte.
Matthew Cleavon van Haren war gut Einmeterneunzig groß und schlank und der lange Mantel in dunklem Blau ließ ihn ausgesprochen weltgewandt aussehen. Als er seine jüngere Tochter bemerkte, verlangsamte er seinen Schritt. Sein gutaussehendes, schmales Gesicht verzog sich zu einem zärtlichen Lächeln.
„Na, mein Mädchen? Hast du auch nichts vergessen?“
Wortlos schüttelte Patty den Kopf und schürzte unverhohlen die Lippen. Es war Verletzung und Angst in einem, was in ihr tobte. Regungslos beobachteten ihre rehbraunen, verdächtig glänzenden Augen, wie ihr Vater die nächsten beiden Koffer zum Taxi trug. Der blaugekleidete Fahrer nahm sie ihm ab und verstaute sie im Kofferraum. Matthew kam zurück und wollte wieder zu zwei Taschen greifen, es waren Pattys.
„Paps?“ Hastig packte seine vierzehnjährige Tochter ihn an den Armen, riss ihn zu sich herum. Sie musste es aufhalten, jetzt, sofort, ehe es zu spät für sie wäre, denn sie fühlte instinktiv, dass dieses ganze Vorhaben für sie entsetzlich enden würde und dass sie dieses Jahr womöglich nicht durchstehen konnte. Patty besaß weder die Fähigkeit, noch die Erfahrung, die Ausmaße eines solchen Aufenthalts einzuschätzen, denn sie war von Kleinkindesalter an verwöhnt und behütet. Das jüngste Kind ihrer Eltern und Rachels großer Liebling, von ihrem Vater heiß und innig geliebt und von ihrer Mutter immer daran erinnert, dass sie nicht irgendeiner Familie angehörte, sondern dass sie etwas Besonderes geworden war. Nie hatte sie für etwas, das sie haben wollte, arbeiten oder einen Finger rühren müssen und gerade deshalb brannte die Enttäuschung in ihr, diesmal ihren Willen nicht bekommen zu haben. Dieses Mal schienen ihre Eltern ihr eigenes Ziel durchzusetzen und das passte Patty ganz und gar nicht. Sie konnte nicht ahnen, dass Mädchen wie sie eines war, keine Enttäuschung im Leben erspart blieb und dass die Lektionen, die sie zu lernen haben würde, härter waren, als sie es sich in diesem Moment ausmalen konnte. Sie verstand das Leben nicht – sie verstand nur die Oberflächlichkeiten und das genügte ihr.
Liebevoll blickten Matthews hellbraune Augen, die genau dieselbe Farbe wie seine kurzgeschnittenen, an den Schläfen schon leicht ergrauten Haare besaßen, auf seine kleine Tochter herab. Seine schlanken, gepflegten Hände, die Rachel immer als „Medizinerhände“ bezeichnete, legten sich schwer auf Pattys Schultern. Sein einnehmender, vertrauenserweckender Charme stand im völligen Gegensatz zu der kalten Ausstrahlung seiner Frau und Außenstehende neigten gern dazu, das Ehepaar van Haren mit zwei sich abstoßenden Magneten zu vergleichen. Bei öffentlichen Anlässen – und auf solchen waren sie dank Rachels Modebewusstsein häufig vertreten – verhielt Matthew sich still und zurückhaltend und ließ seiner Frau den Vortritt. Er hatte sein Leben der Medizin und seinem Beruf als Chirurg verschrieben und für gewöhnlich blieb ihm wenig Zeit, sich tieferschürfend mit solchen Nebensächlichkeiten wie der neuesten Kreation eines Pariser Modeschöpfers zu beschäftigen. Außerdem fehlte ihm dafür jegliches Interesse und Verständnis. Für ihn sah seine Frau immer bezaubernd aus – ganz gleich, ob in einem Designerkleid oder in einer Tweedhose von der Stange aus dem Kaufhaus.
„Paps!“ Flehend schlang Patty jetzt ihre Arme um seinen Oberkörper. „Wenn du mir meinen größten Wunsch erfüllst, brauchst du nie, nie wieder irgendetwas für mich tun! Dann bin ich bis ans Ende meines Lebens wunschlos glücklich! Bitte, lass mich hier, bitte, bitte!“ Sie presste sich fest an ihn. Diese Masche half meistens, wenn sie ihren Kopf durchsetzen wollte. „Du kennst mich, Paps! Du weißt, dass ich in Amerika todunglücklich sein werde!“
Matthew musste sich sehr zusammennehmen, um Ruhe zu bewahren. Zu oft hatte sie ihm damit schon in den Ohren gelegen, seit Wochen, seit Monaten, seitdem sie wusste, dass es dieses Auslandsjahr geben würde.
„Dazu ist es zu spät“, erklärte er bedacht und schob sie sanft von sich fort. „Außerdem bildest du dir das alles nur ein! Es wird dir bestimmt gefallen, glaub mir! Sogar deine Mutter freut sich auf die Staaten und du weißt, wie schwer sie mit etwas zufriedenzustellen ist!“
Patty trat einen Schritt zurück und starrte ihn an. Tränen der Wut und des Trotzes brannten in ihren Augen. „Das ist ungerecht! Ihr seid meine Eltern und damit für mein Wohlbefinden verantwortlich, aber jetzt zwingt ihr mich, die schlimmsten zwölf Monate meines Lebens durchzustehen! Das verzeihe ich euch nie, niemals!“
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