Er drückte Jean kurz die Hand und lächelte ihr höflich zu. „Freut mich. Seit einem halben Jahr ist die Familie, die drüben in der alten Porter-Hütte einzieht, Gesprächsthema Nummer eins! Ich hoffe, du wirst hier ein schönes Jahr erleben!“
Jean nickte ihm schüchtern zu. „Das hoffe ich auch.“
Der Cowboy lächelte höflich und nachdem von Jean kein weiterer Satz kam, wandte er sich Amy zu und begann mit ihr über deren Schimmelstute zu plaudern und fachzusimpeln.
Jean hörte nicht richtig zu. Wozu auch? Sie verstand nichts von Pferden und deshalb auch die Hälfte des Gesprächs nicht. Stattdessen gab sie vor, wieder den tanzenden Paaren zuzusehen. In Wirklichkeit jedoch wanderten ihre Augen immer wieder nach links, zu dem jungen Mann hinüber.
Chris McKinley war sechsundzwanzig Jahre alt, über einsachtzig groß und im Vergleich zu den anderen, meist schlaksigen Männern, die auf der Ranch arbeiteten, muskulöser und kräftiger gebaut. Sein pechschwarzes, kurzes Haar und seine braungebrannte Haut wollten nicht recht zu den auffällig hellbraunen Augen passen, die unter den dichten, dunklen Brauen hervorblickten. Sie schienen von derselben Farbe zu sein, wie der Sand der Prärie, hell und klar, manchmal wie Bernstein und mit einem dunkleren Rand umgeben, absolut einmalig. Seine Züge waren kantig, nicht außergewöhnlich gutaussehend und meistens spielte ein feines, kaum erkennbares Lächeln um seine zartgeschwungenen Lippen, jedoch lag in seiner Art etwas Ernsthaftes, fast Grüblerisches. Ohne sich dessen bewusst zu sein, zog seine eigenartige, schwer beschreibbare Ausstrahlung Jean völlig in den Bann: Einerseits umgab ihn etwas Geheimnisvolles, Distanziertes, schon Zurückhaltendes, andererseits jedoch war deutlich spürbar, dass er einen starken Willen besaß und genau wusste, wie er diesen durchzusetzen vermochte.
Als er sich jetzt von Amy verabschiedete, zwang Jean sich, ihren Kopf schnell beiseitezudrehen. Sie hielt es jedoch nur wenige Sekunden aus, dann blinzelte sie vorsichtig zurück nach ihrer linken Seite – der Cowboy war verschwunden. Beinahe enttäuscht nahm Jean einen großen Schluck von der Bowle.
„Oh je!“, hörte sie da Amy neben sich aufstöhnen. „Jetzt kommt auch das noch!“ Sie deutete zu dem niedrigen Podest, auf dem die Musiker saßen und das nun der Bürgermeister Silvertowns bestiegen hatte. Die Melodie brach ab und die tiefe, durchdringende Stimme Stevie Bentleys übertönte sämtliche anderen Geräusche. „Ruhe bitte! Darf ich einen Moment um Ruhe bitten!“
Tatsächlich trat in kurzer Zeit neugierige Stille im Wohnraum ein. Alle Blicke richteten sich gespannt auf den Bürgermeister, der noch einmal tief Luft holte, ehe er zu einer zehnminütigen Begrüßungsrede ansetzte, in der er weit ausschweifend alles zum Besten gab, was er bis dato über die Familie van Haren wusste. Immer wieder ging ein leises Tuscheln und Wispern durch die Zuhörer und mit einem Mal fühlte Jean sich beobachtet und wie zur Schau gestellt. Ihre Eltern warteten gleich neben dem Podest auf das knapp gefasste Ende ihres Lebenslaufs und betonten ihre Zusammengehörigkeit: Matthews Arm lag auf der beneidenswert schmalen Taille seiner Frau, während Rachel scheinbar unsagbar glücklich in die Runde lächelte.
„Da sieht man, was ein glückliches Ehepaar ist!“, hörte Jean hinter sich eine Frau flüstern und sie musste sich zusammenreißen, um nicht laut aufzulachen. „Und das dort hinten ist ihre jüngste Tochter – was für eine Schönheit, nicht wahr?“
Ach ja, dachte Jean und ihr Herz wurde von einem langen Dolch durchbohrt. Jetzt stehe ich hier, komme mir vor wie ein Fremdkörper und werde noch nicht einmal als die andere Tochter erkannt...wie immer eben, wenn Patty dabei ist. Alle haben nur Augen für sie und bewundern ihr makelloses Aussehen. Und ich? Was ist mit mir? Was kann ich dafür, dass ich nicht so aussehe wie Mom?!
Das Selbstmitleid überkam Jean, wie so häufig in solchen Momenten und überschattete für einige Minuten alle anderen Gefühle. Es war ihr unmöglich, sich auf die Worte des Bürgermeisters zu konzentrieren. Der kurze Applaus der Gäste ließ sie erschrocken zusammenzucken und sagte ihr, dass die Rede zu Ende sein musste. Stevie Bentley überließ das Podest wieder den Musikern, die sofort zum nächsten Lied ansetzten und keine Minute später war die Stimmung wieder so ausgelassen wie zuvor.
Am anderen Ende des Raums stand Patty van Haren umringt von jungen Männern und jugendlichen Vertretern ihres Alters. Auch einige Mädchen hatten sich neugierig zu ihr gesellt, um von ihr zu erfahren, wie sie lebte und wie es so war, dort drüben im „guten alten London“. Noch nie hatte Patty sich so außergewöhnlich und von Gott bevorzugt empfunden, wie an diesem Abend. Sie lachte kokett und warf die Haare zurück, während sie unbemerkt von Zeit zu Zeit ihr Aussehen in einer der Fensterscheiben überprüfte, in denen sie die Reflektion ihrer eigenen Schönheit bewundern konnte.
„Wie groß ist euer Haus in London?“, wollte eines der Mädchen nun wissen.
„Wir haben kein Haus“, berichtigte Patty, einer Schullehrerin nicht unähnlich, jedoch mit gekonnt süßlichem Unterton. „Wir bewohnen eine Villa. Das ist ein großer Unterschied!“
„Ach ja?“, fragte das Mädchen ahnungslos und runzelte die Stirn. „Ist das nicht dasselbe?“
„Nicht wirklich“, entgegnete Patty allmählich ungeduldig. Wozu sollte sie sich mit so einem Dummkopf abgeben und ihr wäre fast eine schnippische Bemerkung entfahren, hätte sich nicht in dieser Sekunde einer der Cowboys zu ihnen durch die Menge geschoben und lauthals verkündet: „Ja, sieh einer an! Welch eine Überraschung!“
Patty erstarrte, entsetzt über das, was ihr Gedächtnis ihr verriet. Sie kannte den Kerl, dem diese Stimme gehörte! Oh, Himmel hilf, ja, sie kannte ihn! Zuerst färbten sich ihre Wangen rot, dann weiß und schließlich noch röter als zuvor. Nur mit größter Vorsicht wagte sie es, den jungen Mann hinter sich anzusehen. Seine weißen Zähne blitzten, während er sie frech angrinste und seine Schadenfreude nicht verbergen konnte. Jetzt, nachdem er keinen Hut trug, leuchtete sein rotblondes Haar im Licht der Deckenlampen intensiver als sonst und die spitzbubenhafte Ausstrahlung seines Gesichtes kam noch deutlicher zur Geltung.
„Nach der ersten Abweisung bist du mir jetzt wenigstens einen Tanz schuldig!“, entschied er und nahm Patty ihr Glas weg, um es einem der Jungs in die Hand zu drücken. „Hoffentlich komme ich jetzt dazu, mich in aller Ruhe vorzustellen: Trey Stockley. Guten Abend, Patricia! Schön, dich unter anderen Umständen wiederzusehen! Junge Lady – darf ich bitten?“
Ehe sie protestieren konnte, hatte er schon seinen Arm um ihre Taille gelegt und sie auf die Tanzfläche, zwischen die anderen Paare dirigiert.
„Was soll denn das jetzt wieder?“, fragte der Junge, einzig das Glas in der Hand haltend, das ihm von seiner Auserkorenen noch geblieben war. „Kann Trey sich nicht einmal um seine eigenen Angelegenheiten kümmern?!“
„Das ist doch typisch!“, erwiderte eines der Mädchen und rümpfte die Nase. „Trey kennt doch jedes Mädchen im Umkreis von fünfzig Meilen, sagt mein Vater immer! Warum also sollte er Patty nicht auch schon irgendwo vorher getroffen haben?“
Währenddessen hatte der junge Cowboy längst angefangen, Patricia van Haren zu einem Tanz zu zwingen.
„Aber…“, stammelte Patty, völlig überrumpelt. „Das können Sie doch nicht machen!“
„Wieso nicht?“ Trey war nicht von seiner Idee abzubringen. „Ach ja, was ich dich unbedingt noch fragen wollte: Bist du noch überfallen worden? Hat womöglich ein Indianerhäuptling an deine Tür geklopft oder ein wilder Bär um Honig gebettelt? Davon gibt es eine Menge hier draußen, musst du wissen. Sie sind ganz leicht an ihrem Lätzchen zu erkennen, das sie um den Hals gebunden haben!“ Er schien seinen eigenen Witz äußerst lustig zu finden, denn er lachte laut auf.
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