1 ...6 7 8 10 11 12 ...20 Nach vier Wochen haben Hannes und ich uns tatsächlich daran gewöhnt, dass wir hier im Haus allein leben. Erschreckend schnell ist das gegangen. Positiv an unserem Zweipersonenhaushalt ist, dass nicht mehr so oft Wäsche zu waschen ist. Ein Drittel weniger Klamotten, Handtücher, Bettwäsche und dergleichen. Ein bisschen weniger einkaufen natürlich; die Kocherei muss insgesamt anders geplant werden.
Was nach so kurzer Zeit auffällt, ist die Tatsache, dass es längst nicht mehr so oft Rohkost gibt wie vorher. Die vielen bunten Salate in allen Variationen zuzubereiten, hatte Marvin nicht nur stets vorgeschlagen, sondern sie auch in Eigenregie hergestellt. Da müssen wir nun selber ran.
Vorteilhaft ist, dass ich nicht mehr bekümmert darüber sein muss, dass Marvin nachts lange wach bleibt; ich merke es ja nicht. Vermutlich wird er jedoch tatsächlich früher im Bett sein als bisher, allein aufgrund der Tatsache, dass morgens um 6.15 Uhr sein Wecker schellt. Auch ein junger Mensch wird es empfindlich spüren, wenn er mehrere Nächte zu wenig Schlaf bekommen hat.
Nicht allzu viele Gedanken mache ich mir darüber, ob er seine alltäglichen Dinge geregelt und anstehende Probleme gelöst bekommt. Das traue ich ihm einfach zu. Der nicht mehr permanente elterliche Beistand wird für Marvin wahrscheinlich auf Dauer viel besser sein, da er wirklich alleine zurechtkommen muss. Vielleicht habe ich viel zu oft angeboten, dies oder jenes für ihn zu erledigen; der Entwicklung seiner Selbstständigkeit wird das kaum zugute gekommen sein. Schließlich glaube ich, dass auch sein Selbstbewusstsein gesteigert wird, wenn er alles in Eigenregie geregelt kriegt.
27. September
Zwei Wochen lang war Hannes‘ Mutter im Krankenhaus, nachdem sie in ihrer Wohnung gestürzt war und sich einen Bruch zugezogen hatte. Seit einigen Tagen nun befindet sie sich in einer Reha-Klinik.
Anfangs war sie ziemlich verwirrt; sie glaubte, vom Krankenhaus aus gleich wieder heim zu können, obwohl Ärzte und Pflegepersonal ihr mehrfach erklärt hatten, dass das ohne Nachbehandlung nicht möglich wäre. Sowieso ist sie etwas durcheinander, und seit kurzer Zeit wissen wir auch, weshalb. Hannes’ Bruder Bert hat ihre Krankenakte lesen und darin den Hinweis auf eine bestehende Demenz entdecken können.
Hannes ruft heute bei ihr in der Klinik an, um zu hören, wie es geht. Ich halte mich zurück, rede nicht mit ihr und lasse lediglich schöne Grüße ausrichten. Seit langer Zeit fragt Janni nicht mehr nach mir, daher werde ich sie jetzt auch nicht behelligen. Bei Hannes‘ und meinem letzten Besuch bei ihr zuhause vor wenigen Wochen bedankte sie sich bei ihm mit den Worten: „Nett, dass Du mich mal wieder besucht hast.“ Für mich reichte ein knappes „Tschüss, bis bald mal wieder.“ Ganz unterschwellig nagt an mir zwar die Erkenntnis, dass ich mich meiner Schwiegermutter gegenüber auf solche Weise nicht sonderlich gut benehme, jedoch fühle ich mich auch ein wenig beleidigt. Ein kindisches Verhalten, das ich zeige, aber es ist nicht zu ändern.
Später mache ich mir aber doch Gedanken über das Thema Demenz. Wie gehen wir als Familie damit um? Was wird auf uns zukommen? Auch finanziell. Eine später erforderliche Betreuung kann ja nicht ausgeschlossen werden. Wir werden abwarten müssen, wie es weitergeht mit der Schwiegermutter.
2. Oktober
Endlich mal wieder in Wuppertal. Mit dem Auto sind wir schon am frühen Vormittag in die Stadt gekommen, und zwar in erster Linie, um einige Touren mit der Schwebebahn zu fahren. Gleich auf dem Weg vom Parkplatz zum Bahnhof Vohwinkel sehen wir schräg über uns einen Zug fahren. Durch den Fahrtwind, den er verursacht, prasseln mengenweise Kastanien auf uns herab; die fünf schönsten stecke ich in meine Tasche.
Kaum dass wir oben am Bahnsteig der schönen alten Station stehen, pendelt auch schon ein Zug heran – im Vier-Minuten-Takt geht das hier. Die Fahrt beginnt. Vorbei an Häusern aus der Gründerzeit mit nahezu unverstelltem Blick in die Fenster der ersten Etagen.
Ein Stück weiter auf dem Weg große Backsteinbauten; stillgelegte Fabriken, mit zerborstenen Fensterscheiben und bemalten Mauern, im Außenbereich mit allerhand Wildwuchs. Mir gefällt dieses saftige Grün neben den dunkelroten Backsteinen mit ihrem farbenfrohen Graffiti. Nach einer Kurve, es schaukelt beträchtlich, führt ein Teil der Strecke über die Wupper. Uferflächen voller Sträucher der unterschiedlichsten Art. Dazwischen rotes Weinlaub.
Wir fahren weiter, steigen aus, wo es uns gefällt, was mit der Tageskarte ja ohne weiteres möglich ist. Die Fahrtzeit zwischen Vohwinkel und Oberbarmen dauert etwa eine halbe Stunde, und es gibt so viel zu sehen, dass wir großen Spaß an der Aktion haben. Überall unter uns ist eine lebendige Betriebsamkeit zu erkennen. Wir staunen über die teils prächtigen Bahnhöfe. Die Haltestellen Werther Brücke und Völklinger Straße sind wunderbar instandgesetzt; wie vor über 100 Jahren, zur Zeit der Gründung.
Ein Fahrzeugmodell aus jener Zeit erreicht soeben den Bahnhof. Eine bereits wartende Gruppe älterer Menschen wird begrüßt vom Personal, welches bekleidet ist wie wohl vormals üblich, zeigt die Fahrtausweise für diese Sonderfahrt, und die Tour kann beginnen. Vom Aussehen her, auch wir sind älter und genauso grauhaarig wie all die Leute hier, könnten wir gut dazu passen, doch es ermangelt uns an den entsprechenden Fahrkarten. Also warten wir auf den nächsten regulären Zug.
In der Nähe der Haltestelle Berliner Straße genießen wir Kaffee und Kuchen. Links und rechts geht der Blick in Richtung der grünen Hügel, viele Häuser in Hanglage. Dann wieder Fachwerk, verschieferte Häuser, und auch hier einige prächtige Gebäude aus der Gründerzeit, mit vielen Verzierungen an den Türen und Fenstern. Voller positiver Eindrücke machen wir uns am frühen Abend auf den Heimweg und sind uns einig: Wir kommen bestimmt bald wieder.
3. Oktober
Ein Gang allein vorbei am Rautenstrauchkanal in Lindenthal. Während des Spaziergangs ist nicht nur das schöne Gelände entlang des Wassers zu bewundern, sondern man kann auch gut erahnen, welche Mode derzeit aktuell ist. Eine junge Frau stöckelt in atemberaubenden High-Heels durch die Anlage; sie wird später bestimmt prächtigen Muskelkater haben.
Ein Teil der gut betuchten Lindenthaler Damenwelt führt den Nachwuchs aus, teils noch im Wagen, teils an der Hand. Auch die Kinder sind überwiegend aufs Feinste gekleidet; irgendwelche Spiele auf dem Boden und sich dabei womöglich schmutzig zu machen ist sicher verpönt. Alle gehen manierlich neben Mama oder Oma her. Auch manche Hunde werden, brav angeleint, mitgeführt. Es kommt mir vor, als würden sich alle um mich herum bewusst vorschriftsmäßig bewegen, sogar die Haustiere.
Und diverse Jogger rennen herum. Sie wollen oder müssen so fit wie möglich bleiben, um weiterhin in ihren Berufen viel Geld verdienen zu können. So mancher von ihnen wohnt vielleicht in einem der prächtigen Häuser, die, weiter hinten, durch die meist noch belaubten Bäume hindurch zu erkennen sind mit ihren schimmernden Fenstern.
Das erinnert mich daran, dass ich, anstatt hier herumzulaufen und mir hämische Gedanken (etwa Neid?) über vermeintlich wohlhabende Menschen zu machen, vielleicht besser mal die eigenen Fenster geputzt hätte. Nötig wäre es gewiss. Aber ich möchte diesen wunderschönen Samstagnachmittag doch lieber draußen verbringen. Wer weiß, wann der Herbst mit Regen, Sturm oder Kälte einsetzen wird. Das Fensterputzen kann ich dann immer noch auf die imaginäre Liste setzen.
Durch die Bäume der Allee geht mitunter ein böiger Wind, der nicht nur viele Blätter herunter fallen lässt. Auch das begleitende Rauschen gefällt mir. Über den Kanal fliegt ein Reiher; ihm bei seinem eleganten Flug zuzusehen sorgt erkennbar für Staunen und Bewunderung bei all den Leuten, die extra für ihn stehen bleiben.
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