„Umsteigen“, sagte Enn und stand auf. Dammtor hieß es hier. Dann in die nächste Bahn, eine Nummer zwei, Richtung Winterhude. Was für Namen die hier hatten.
Schon bald sollten sie wieder aussteigen. „Eppendorfer Krankenhaus“, sagte der Onkel, den sie Viva nennen sollten, „Da oben ist die Wohnung.“ Er wies in die hohen Baumzweige gegenüber, hinter denen Hausmauern knapp zu erkennen waren. Sie überquerten die große Straße. Der Wohnblock aus roten Klinkern lag behäbig zwischen Kastanienlaub unter dem blassen Abendhimmel. Hier wirkte die Stadt nicht ganz so städtisch wie Lene es befürchtet hatte. Und dann das Treppenhaus mit halbhoch moosgrün tapezierten Wänden, verhalten knarrenden, gebohnerten Dielen, und die Glastür des Fahrstuhls mit blitzenden Messing-Griffstangen und -Rahmen. Also wirklich, vor solchem Luxus erstarrten sie alle drei fast ehrfurchtsvoll. So vornehm? Fragend blickten die Kinder, aber der Viva nickte schmunzelnd. „Is‘ schon richtig hier.“
Dann zeigte er ihnen die Wohnung. Hohe Zimmer, weiße Decken, Tapeten und weiß gestrichene Türen, große Fenster überall. Herrschaftlich. Nobel. Sie staunten.
„Provisorisch erstmal“, erklärte Ernst, „Eure Möbel kommen ja noch.“
„Und die Bücher“, erinnerte Lene.
Sie ließen sich herumführen wie in einem leeren Museum. Vorn die Garderobe, ein Spiegel über dem Tischchen. „Da kommt der Hund drauf“, meinte Lene.
„Ach, ja? Den hast du noch?“
„Kennst du den? „ fragte Georg, „Unseren weißgrauen Porzellanhund?“
„Natürlich.“ Viva lächelte. „Sowas vergisst man nicht.“
Das war wie ein kleiner Schritt aufeinander zu. Weitere würden folgen.
Links vom Eingang, der Garderobe gegenüber, ein kleines Zimmer mit Fenster zum weitläufigen Innenhof. „Das war früher das Mädchenzimmer, die Hilfskraft, die wäre eigentlich auch jetzt noch nötig“, meinte Ernst, „Oder, ich dachte, vielleicht wird das dein Reich, Georg?“
Sie guckten erstmal weiter. Den Flur entlang. Rechts neben der Garderobe, stand eine Couch, die man unter Kissen kaum sehen konnte. Daneben das Telefon. Das war nicht üblich zu der Zeit. Aber hier bei Ernst und seinen Hanseaten hätte Lene wahrscheinlich nichts anderes erwarten können. Die Kinder waren von zu Hause natürlich daran gewöhnt.
Dann, neben dem kleinen Zimmer, die Küche: Geräumig, sah Lene. In der Mitte ein großer Tisch mit Stühlen, rechts vor der Wand ein Herd, Spüle, links hinten eine schmale Balkontür, in der Ecke wohl eine Speisekammer.
Ernst öffnete die Tür. „Der Balkon ist winzig. Aber wir können uns zuwinken.“
Lene sah ihn fragend an, dann begriff sie. „Kaki und Christian wohnen da drüben mit den Jungs?“ Sie blickte in das Hofkarree hinunter, sah eine magere Wiese, zwei Teppichstangen. Rundum der Häuserblock, einheitlich rote Klinker, große Fenster, kleine Küchen-Balkone. Irgendwo da gegenüber wohnten sie also: Ernsts Tochter mit ihrer Familie. „Wie gut für euch“, sagte sie und begriff ohne Worte, wie der Bruder froh war nach Metas Tod wenigstens Margarita in der Nähe zu haben, die von allen Kaki genannt wurde.
Ernie, Enns Ältester, war mit seiner Irene in Venezuela geblieben mit ihrer inzwischen großen Familie. Und Peter? Der wohnte auch nicht weit weg. soviel Lene wusste.
„Was für Jungchen?“ wollte Georg wissen.
„Die beiden von Vivas Tochter, der Kaki“, sagte Lene, „Die werdet ihr kennenlernen.“
„Sind noch klein, Eure Neffen“, sagte Viva, „Sechs und acht Jahre alt.“
Hanna blieb stumm. Blickte wie ihr Bruder in den Hof hinunter. Zwei Mädchen liefen da mit einem Ball herum. „Habt ihr keinen Garten?“ fragte sie schließlich leise.
Lene presste die Lippen aufeinander. Viva strich der Nichte über die dunklen Zöpfe. „Es ist ganz sicher da unten“, sagte er zu Lene gewandt, „Kein Garten, aber sicher vor fremden Leuten und vor Hunden. Kein direkter Zugang von der Straße her.“
„Man kann nicht alles haben“, meinte Lene. Der Garten vorher, die Freiheiten dort überall in und um die Kleinstadt, - Sicherheit war dort selbstverständlich gewesen. Hier war die Fremdheit einer Großstadt. Einfach würde es natürlich nicht werden. Nicht für die Kinder, nicht für sie selbst.
Sie traten wieder auf den Flur. Links um die Ecke herum öffnete sich eine riesig große Diele im Halbdunkel. „Der Korridor“, sagte Ernst.
„So viel Platz?“ staunte Hanna, „Und unsere Sachen?“
Es wird hier schon alles hineinpassen“, sagte Lene, „Das sehen wir dann.“
Geradeaus hinter der Glastür war erstmal ein großes Zimmer mit Blick zur Straße und zum Park. Nur ein Sessel und ein niedriges Tischchen mit Aschenbecher standen da. „Das wird wohl unser Wohn- und Esszimmer?“ meinte Ernst fragend.
Daneben lag ein weiteres Zimmer, auch zur Straße hin, ganz leer bis auf drei Matratzen mit Bettzeug auf dem Fußboden. „Provisorisch, sag‘ ich ja.“ Ernst hob bedauernd die Schultern. „Von Kaki geliehen.“
Georg nickte. Ihm machte Provisorisches sicher am wenigsten aus. Lene lachte. „Wunderbar erstmal. Danke.“
Das Eckzimmer war bewohnt. „Oh, grün!“ rief Hanna. Sie staunten – und waren alle sofort verliebt.
„Dein grünes Reich, Enn?“ An den Wänden Aquarelle und Ölgemälde, neben dem Fenster die Staffelei, auf der anderen Seite ein Schreibtisch mit losen Blättern, im Hintergrund Bett und Schrank.
„Aber ich dachte…“, Georg zögerte, „Bist du nicht Kaufmann?“
Der Onkel zwinkerte ihm zu. „Das war ich allerdings. Aber jetzt male ich nur noch.“
„Und paffst“, stellte Lene fest und schnupperte in die intensive Zigarren-Luft.
Nebenan öffneten sie die Tür zum anderen Eckzimmer, das lag zum Hof hin und war auch leer. Daneben gab es einen schmalen, langen Raum mit einer überdimensionalen Badewanne an der Längswand. Andächtig blieben sie in der Tür stehen. Lene hatte bisher nicht auf sich selbst geachtet, spürte aber jetzt plötzlich, wie verschwitzt sie war, wie sie sich nach Wasser sehnte. „Herrlich“, lobte sie.
Daneben ein Raum, noch schmaler, da befand sich das Klo mit extra Waschbecken, nach hinten hin war das Räumchen horizontal abgeteilt, der obere Teil hatte hinten ein Fenster, das mit einer langen Stange zu öffnen war, der untere Teil war zugemauert und verbarg die niedrige Speisekammer, die ja von der Küche aus zugänglich war.
Der erste, große Schritt war getan. Der zweite, bald darauf, war der Tag, an dem ihre Möbel kamen. Und die elf großen Bücherkisten. Meine Güte, so viele Bücher hatten selbst die Hanseaten hier anscheinend noch nie gesehen. So dachte Lene amüsiert angesichts der erstaunten Gesichter mit ungläubig aufgerissenen Augen im Treppenhaus. Möbel und Kisten um Kisten schleppten die Träger unten in den Fahrstuhl und dann oben in die Wohnung. Die Hausbewohner ließen sich das Ereignis nicht entgehen. Man musste doch sehen, was diese seltsam sprechende Frau aus Ostpreußen für Möbel hatte. Viel konnte es ja nicht sein. Eine Frau, naja, die brachte gewöhnlich ihren Nähtisch, Strickkorb, ihre Kochtöpfe, vielleicht ihr Kopfkissen, Blumentöpfe oder ein Heft Backrezepte an. Aber Bücher? Liebe Zeit, was wollte eine Frau denn damit? Ein ganzes Regal voll womöglich? Nein, wo gab es denn so etwas? Selbst vornehme Leute mussten sich doch nicht unbedingt mit Büchern belasten. Und die beiden Kinder, ja, wie redeten die denn? Kaum zu verstehen so ein Kauderwelsch.
Lene dirigierte in der Wohnung die Möbel an ihre richtigen Plätze. Wie und wo sie was stellen wollten, hatte sie zuvor mit ihrem Bruder wohl durchdacht. Der Schreibtisch ins Wohnzimmer rechts hinten ans Fenster, das Bücherregal gegenüber. Der runde Tisch mitten ins Zimmer, dahinter an die Wand das alte Familien-Kanapee. Der Flügel, - na, der war natürlich nicht so einfach zu transportieren, o je, o je, ein Glück, dass Muttchen das nicht mitansehen musste -, der und die Chaiselongue ins zweite Wohnzimmer nebenan. Den anderen Schreibtisch sollte Georg in seinem Zimmerchen haben, der gehörte sowieso zu seinem väterlichen Erbe. Ja, und die Küche wurde jetzt mit weiterem Geschirr und Töpfen richtig ausgestattet. „Fehlt noch der Eisblock für die Speisekammer, Enn, den hast du doch bestellt?“
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