Ihre Schwestern hatten wenig Zeit gehabt, – oder es nicht unbedingt erstrebenswert gefunden? –, sich in erster Linie weiter zu bilden, obwohl keine von ihnen ungebildet war. Papas Verdienst? Stattdessen waren sie, zwar lebhaft und kreativ, aber ziemlich brav in etwa die Rollen geschlüpft, die von ihnen erwartet worden waren. Hatten Papa und Mama das angestrebt? Oder wer sonst? Und warum war das bei ihr selbst anders?
Nein, das kam für Lenchen alles nicht in Frage. In der Schule war sie hier natürlich, ähnlich wie zuvor in Osterode, eine von vielen und eine, der alles leicht fiel. Aber am Nachmittag gab es weder Vaters Kontrollblick, noch Mutters Fürsorge. Nein, jetzt streckte das ehemalige Nesthäkchen seine Erwachsenen-Nase wohin und zu wem es ihm gefiel. Lenes Neugierde war grenzenlos. Ihre meist sehr direkten Fragen wurden mit Lachen, Spott oder mit Ablehnung quittiert. Sie selbst lachte auch immer gern, sogar über sich selbst. Provozierte gern, half aber auch gern jedem, der irgendwie in Nöten war, - meistens bei Dingen, die das Lernen und die Schularbeiten betrafen. Kurz und gut: Sie probierte alles aus, was ihr über den Weg lief. Und das war nicht wenig. Sie hielt wissbegierig nach allem Ausschau, was da so gelaufen kam.
Halb ernsthaft, halb lachend versuchte sie bei jenen „Mädchengesprächen“ zuzuhören und mitzureden: sich über die neuste Mode den Kopf zu zerbrechen, die Pickel im Gesicht zu dramatisieren, die Probleme erster, aussichtsloser Liebe zu beklagen oder die Tricks ausfindig zu machen, wie man sich mit der Brennschere so wahnsinnig engelsgleiches, gelocktes Haar zulegte. Bei all dem versuchte Lene mitzuhalten, - nein, das lohnte meist doch nicht die Zeit, jedenfalls nicht so unendlich, fand sie. Viel lieber diskutierte sie mit Freunden über Politik, das war anregend. Allerdings staunte sie oft heimlich über das eng begrenzte Blickfeld, regte sich auf über die niedrige Horizontlinie, die scheinbar außerhalb Deutschlands oder gar Ostpreußens aufhörte und über die viele anscheinend nicht hinausdenken konnten. Das musste man aber doch. Hatten sie nicht alle wenigstens etwas Englisch und Französisch gelernt? Wozu sollte das gut sein, wenn einen das Land und seine Menschen nicht interessierten? Man denke nur an den eigenen Bruder, der seit Jahren in Venezuela lebte, zuerst fast im Urwald, dann in Maracaibo, das war doch ein bisschen weiter weg als das nächste ostpreußische Dörfchen! Bei solchen Debatten konnte sie sich ereifern, erhitzen und auch laut, direkt und aufbrausend werden. Gar nicht mädchenhaft, geradezu fürchterlich. Im Nachhinein schimpfte und seufzte sie dann manchmal über sich selbst, aber es war nicht zu ändern.
Dagegen konnte sie durchaus auch anders, oh ja. Sie ließ sich gern in Cafés einladen, testete ihren Charme und spielte mit bei allen Vergnügungen. Tanzen war natürlich gefragt, ja, Tanzen mochte sie unbedingt, - jedenfalls, sofern der Partner nicht gegen den Takt herumtrampelte oder ihr mit keuchendem Atem zu nahe kam. Tanzvergnügungen hatten unbedingt einen eigenen Nervenkitzel. Verwundert lächelte sie darüber, wie leicht es war der Männlichkeit den Kopf zu verdrehen, - aber wozu eigentlich? Was den jungen Herrchen so durch die Köpfe gehen mochte, was sie oft lächerlich zappelig, glutrot und komisch werden ließ, das durchschaute sie noch nicht so ganz. Und sie staunte über Oberflächliches, leicht Geplaudertes, was zwar anregend, aber wenig inhaltsreich war.
Fast immer und bei allem behielt sie ihre gute Lach-Laune, eine aus der Tiefe herausschießende Fröhlichkeit, die erstmal nichts allzu ernst nahm.
Natürlich hatte sie Träume, hatte Zukunftsvisionen weit jenseits solcher Tändeleien. Die behielt sie wohlweislich erstmal für sich, wie in einem Brutkasten, so verglich sie das. Sie wollte unbedingt etwas, - ja, was denn? Na, mindestens die Welt verbessern, als erstes die Menschen, vor allem die Kinder aus armseligen Elternhäusern. Denen musste man etwas bieten, die Augen öffnen und ihre kleinen ahnungslosen Köpfe mit spannender Bildung füllen.
Noch etwas entdeckte Lene: Es machte ihr Spaß, die Menschen um sich herum zu beobachten: ihr Aussehen, ihre Bewegungen, ihre Gesichtsausdrücke und wie sie redeten. Sie mochte es, Eigenheiten von Menschen ihrer Umgebung herauszufinden und was dahintersteckte. Ihr Äußeres und ihr Inneres. Oh ja, das Leben in Elbing war ein ungeahnter Reichtum von neuartigen Genuss-Variationen.
Und sie selbst? Sie ertappte sich dabei, auch sich selbst zu beobachten. Dazu genügte aber nicht der kleine Spiegel über dem Waschtisch der Pension. Wer war sie? Was waren ihre Stärken, ihre Schwächen? Wie wurde sie von anderen gesehen und wahrgenommen?
Ein Jahr später wurde sie schon 17. Die Fragen waren geblieben. Wie wirkte sie? Wie und wer wollte sie sein? Ihr Äußeres und ihr Inneres? Klare Zielvorstellungen waren jetzt mal angebracht, fand sie.
Allmählich entstand eine Idee: Charakteristiken ihrer eigenen Person? Das wäre doch etwas, oder nicht? Sie erbat sich Charakteristiken von Freunden und Geschwistern, Menschen, die sie ja gut genug kannten. Schriftlich sollten sie sein, ehrlich und gut überlegt. Würde das funktionieren? Es war wie eine Art Spiel, sie wollte das gar nicht so furchtbar ernst nehmen, oder doch? Na, mal sehen, je nachdem, was da so eintrudelte.
Tatsächlich erhielt sie das Gewünschte.
„ Versuch einer Charakteristik über Magdalena Wüst“, so schrieb ihre damalige Zimmernachbarin Stavha. Was für ein Name. Wie sie wirklich hieß, daran konnte sich Lene gar nicht mehr erinnern.
„ In den eineinhalb Jahren, die ich an der Seite meines lieben kleinen „Mannes“ verbrachte, habe ich oft Gelegenheit gehabt, ihn bis in sein Innerstes kennen zu lernen und zu durchschauen. Ich will mich daher bemühen, eine einigermaßen zutreffende Beschreibung seiner Licht-, sowie seiner Schattenseiten, der Nachwelt zu überliefern. Ich kann mich rühmen, einen recht angenehmen, edlen Menschen in meinem „Mann“ gefunden zu haben. Von Natur mit guter Begabung ausgestattet, wirkt Lena durch ihr interessantes Wesen anregend und belebend. Doch fühlt sie sich dabei nicht erhaben über ihre Mitmenschen, sondern sie ist stets bereit, andere zu unterstützen und ihrer Not zu helfen. (ich denke dabei an meine Rechenkunst). Sie hat ein sehr natürliches, frisches Auftreten, zuweilen etwas jungenhaft, aber das hindert nicht daran sie ein echtes, junges Mädchen zu nennen. Eitelkeit kennt sie nicht, doch könnte ein ganz klein wenig davon ihr nicht schaden. Für Bücher, Musik, Kunst (im engeren Sinne), Natur hat sie viel Sinn und genießt, was ihr davon geboten wird, in vollen Zügen. – Doch kann ich nicht umhin, auch ihrer großen Vorliebe auf sinnliche Genüsse zu verweisen. Daneben liebt sie sehr die Bequemlichkeit und bewahrt allem Ansturm des Lebens gegenüber eine stoische Ruhe. – Ihr Auftreten ist ein selbständiges Sicheres, das ihr gewiss im Leben einst Stütze sein wird. Sie kann sehr liebenswürdig sein, zuweilen aber auch recht schroff, und sie fährt ihre Meinung direkt ins Gesicht. – Ihr Eigensinn lässt uns beide Eisenköpfe manchmal recht hart aneinander stoßen, doch wird der Streit bald durch ihr leicht zu versöhnendes Gemüt geschlichtet. Von jungen Leuten nimmt sie gern Huldigungen entgegen. Man sagt zwar, dass sie stets kühl wäre, doch will ich gerade das Gegenteil behaupten. Gerade ihr munteres, frisches Wesen gewinnt alle Herzen für sich. - Man hat sie einst mit dem lieblichen Heideröschen verglichen und diesem Vergleich schließe ich mich gern an.
Deine Stavha“
Diese Zimmernachbarin hatte sie „kleiner Mann“ genannt, das war damals so ein Spiel zwischen ihnen gewesen, weil Lene manchmal beklagt hatte kein Junge zu sein. Dann hätte sie es nämlich leichter gehabt mit der Bildung und mit einem Beruf später sicherlich auch.
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