1 ...8 9 10 12 13 14 ...21 Mit Herzklopfen ließ sie die Zeremonie über sich ergehen. Ihre beiden Konfirmationssprüche konnte sie natürlich auswendig. Sie waren aus der Offenbarung Johannes 2,10: „Sei getreu bis an den Tod, so will ich Dir die Krone des Lebens geben“ und aus Jesaias 41,10: „Fürchte dich nicht, Ich bin bei Dir, weiche nicht, denn ich bin Dein Gott“. An das „fürchte dich nicht“ wollte sie sich halten, das nahm sie sich vor, das passte ihr gut.
Dann war alles überstanden. Unter dröhnend klingendem Glockengeläut traten sie hinaus, der Himmel war hell über den hohen Linden, die Luft frühlingsfrisch und herrlich. Lene atmete auf, hob das Gesicht zum Himmel. Da oben war er auf jeden Fall, der Gott, das spürte sie. Und gleichzeitig also jetzt dicht bei ihr. Naja, irgendwie würde sie es schon schaffen, ihr Versprechen zu halten.
Zu Hause besah sie ihre Konfirmations-Urkunde, die rundum mit feinen, alten und mit kunstvollen Schnörkeln versehenen Zeichnungen in zartem Grün versehen war. Das heilige Abendmahl bildete das Hauptbild unten, an den Ecken und Seiten war die Urkunde mit Geschehnissen aus dem Neuen Testament illustriert. Sie seufzte. Also gut: sie würde „getreu sein“, fürchten tat sie sich sowieso fast nie, bis jetzt jedenfalls nicht. Warum sollte sie jetzt damit anfangen, wenn Gott mit ihr sein würde?
Eine Woche später war die Schulzeit zu Ende.
Und jetzt? Schluss mit Lernen? Nach zehn Schuljahren hielt sie ihr Abgangs-Zeugnis in den Händen. Die Zensuren waren natürlich in Ordnung, aber sie freute sich nicht. Nein, wirklich nicht, war das nicht komisch? Die Klassenkameradinnen machten frohe und glückliche, zumindest zufriedene Gesichter. Sie spekulierten auf Arbeit, vielleicht als Haushaltshilfe oder in der elterlichen Landwirtschaft, vielleicht bei der Post. Und manche dachten sogar schon ans Heiraten. Dachten an den Märchenprinzen? Die große Liebe etwa? Oder schlicht ans Versorgtsein durch einen Ehemann, der Geld für beide verdiente?
Lene konnte es nicht ändern, sie war enttäuscht. Das bisschen Lernen sollte alles gewesen sein? Wieder einmal haderte sie mit ihrem Schicksal als Mädchen auf der Welt zu sein. Schade, schade, dass sie nicht ein Junge geworden war. Dann hätte sie gerade jetzt mehr Möglichkeiten gehabt. Was gab es denn für Mädchen? Gar nichts weiter? Sie war nicht nur enttäuscht, sie war empört.
„Freust dich gar nicht, Lenchen?“ fragten die Freundinnen. Alle umringten sie. „Hast doch die besten Noten!“
„Na und?“ Sie wusste, dass sie zum Erschrecken streng aussehen konnte, und das genau wollte sie jetzt auch. Die anderen Mädchen aber waren so fröhlich, die lachten sie einfach aus. Lene wandte sich ab. So wie die anderen war sie eben nicht. Nein, das würde ihr nicht gelingen, auch wenn sie sich Mühe geben sollte. Aber das wollte sie gar nicht. Nein, sich einfach zufrieden geben mit dem, was andere vielleicht von ihr erwarteten, das kam nicht in Frage. Vater und Mutter würden natürlich die guten Zensuren sehen, die sie so wichtig fanden. Tatsächlich hatte sie „sehr gut“ in Betragen, in Aufmerksamkeit, Fleiß und Ordnungsliebe, in Religion, Deutsch, Englisch, Rechnen, Geschichte und Erdkunde. Ein „gut“ stand da für Französisch, Naturwissenschaften, Singen und Turnen. Das einzige „genügend“ stand da natürlich für das elende „Schreiben“. Ja, das würden die Eltern alles zu sehen bekommen und sie deswegen loben. Sie selbst blieb aber am letzten Satz hängen, der untendrunter stand:
„ Da Magdalena Wüst jetzt die Schule verlässt, um in das Elternhaus zurückzukehren, so wird sie mit den besten Segenwünschen für die Zukunft entlassen.“
Ins Elternhaus zurück? War das nicht beschämend? Im Elternhaus war sie vor der Schule und während der Schule doch die ganze Zeit schon gewesen. Sie überlegte: Nach Hause, dahin waren die Schwestern nach der Schule zurückgekehrt, hatten sich im Haushalt getummelt und geübt und sich auf Festen vergnügt, lustig und kritisch nach Verehrern Ausschau gehalten und sich erwachsen gefühlt. Mit dem Abgangs-Zeugnis in der Hand galt man als groß und die Kindheit war vorbei. Naja, was die Leute so dachten!
Mit gesenktem Kopf und einer zornigen Falte auf der Stirn kam sie nach Hause, hielt den Eltern ihr Zeugnis entgegen. Gnädig nahm sie Lob und Glückwünsche entgegen, bemühte sich Stolz und Freude zu zeigen. Mutterchen hatte ihr Lieblingsessen gekocht. Das war reizend von ihr.
Zum Glück hatte sie sich bald etwas anderes in den Kopf gesetzt. Etwas, das Vater ja ebenfalls schon vermutet und angedeutet hatte: ein Seminar? Danzig? Wieder zu Hause herumsitzen, das war jedenfalls nichts für sie, nein, bestimmt nicht. Was für Möglichkeiten gab es denn noch?
Der Kaffee war ein Ritual, das unbedingt eingehalten werden musste. Jedenfalls seit sie zusammen in der Haynstraße wohnten. Oft kam Kaki zum Kaffee herüber, oft trafen sie sich bei ihr in der Husumerstraße drüben. Oft gab es auch Kaffee mit Nachbarn.
Wenn das Wasser im Kessel kochte, der Filter auf der Kanne stand und es bereits betörend duftete, griff Lene eilig im Flur den Schlüssel vom Haken, ließ die Wohnungstür einen Spalt offen und lief die Treppe hoch.
„Frau Zettel? Kaffee ist gleich fertig.“
Oben ging die Wohnungstür. „Ach, Sie Gute! Komme gleich.“
Das war schon früher so gewesen. Schon kurz nachdem sie hier in Hamburg angelangt waren. Während Lene jetzt in ihre Küche zurückeilte, liefen auch ihre Gedanken unversehens zurück. Früher mal…
In den Jahren kurz vor dem Krieg, als sie selbst kaum hier angekommen war, da hatten sie auch schon zusammen Kaffee getrunken. Damals, Mitte der Dreißiger Jahre, war die liebe Nachbarin, Frau Zettel, nicht allein gekommen. „Ich kann die Lütte doch nicht oben lassen.“
Die Kleine knickste artig, spähte durch den Flur zur offenen Stubentür. „Onkel Viva da?“
Der alte Herr, kaffeedurstig wartend in seinem Sessel, war entzückt. „Na, unser Ilschen, was für eine Ehre.“ Er paffte sich in eine Venezuela-Duftwolke und musterte das junge, rotwangig-energische Persönchen. „Kaffee oder Malen?“
„Weißt du doch.“ Ungeduldig zappelte sie vor seinen übereinander geschlagenen Beinen. „Ich trink doch nicht Kaffee.“
„Immer noch nicht? Na, dann zu den Farben.“ Vorsichtig legte er die Zigarre auf den Messing-Ascher. Seine Knie knackten, als er sich erhob. „Lenchen, bringst mir den Muckefuck rüber? Dann habt ihr die Stube für euch.“
Frau Zettel trug schon das Tablett mit Tassen aus der Küche herein. „Machen Sie mir das Kind nicht eitel.“
Er schüttelte den Kopf: „Nee, so ist die nicht.“ Und er folgte der Kleinen, die bereits quer durch den Korridor hüpfte. „Das grüne Zimmer, das mag ich so.“
Er öffnete die Tür. „Ich hör immer Zimmer? Von wegen! Mein Atelier heißt das doch, wie du weißt. So viel Höflichkeit muss sein.“
„Malen Sie wieder, Herr Wüst?“ rief die Nachbarin.
Aber er war schon hinten in der Diele, winkte ab. „Schscht. Verraten wird nichts.“
Frau Zettel hörte ihr Töchterchen kichern und flüstern. Hatten die beiden ein Geheimnis?
„Kaffee kommt gleich.“ Lene schob die Zeitungen auf dem Tisch beiseite. „Immer Platz nehmen, liebe Frau Zettel.“ Sie wies auf das Kanapee, rückte für sich selbst einen Stuhl ab und setzte sich. Nur auf die Kante, denn sie sprang gleich wieder auf, um den Kaffee zu holen. Stillsitzen war nicht ihre Sache. Der Schreibtisch hatte sie lange genug festgehalten. Jetzt war Kaffee dran. Und dafür war auch die liebenswerte Nachbarin immer zu haben.
„Kekse?“ Sie hielt die Schale schon in der Hand. „Kennen Sie ja schon. Nichts Neues. Die Kinder mögen‘s auch mal gern süß.“
„Ihre selbstgebackenen? Ah, die mit ohne alles?“ Sie kicherte, „Nur mit Liebe, weiß ich ja.“
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