Von dem neuen Kleid sind noch eine Menge Flicken übrig.
Die Jungen wollten das neue Boot (ein Boot im schuleigenen Ruderhaus am See) „Ernst Leberecht Wüst“ nennen. Papa geht aber nicht darauf ein.
Sorgen der lieben Eltern, natürlich, Lene hatte kaum anderes erwartet. Denn das Nesthäkchen hatte ja immer noch seine Extrawünsche. Aber ihre Pläne, ja, die hatte sie natürlich inzwischen richtig entwickelt. Nichts Geringeres als das Abitur sollte es sein. Das hatte sie sich in den Kopf gesetzt. Und was sich dort einmal eingenistet hatte, blieb unweigerlich da sitzen. Basta. Armer Vater, mit seiner jüngsten Tochter hatte er es wahrlich nicht leicht. Wissensdurst in allen Ehren, aber als Mädchen musste man das seiner Meinung nach ja nicht übertreiben. Lenchen war doch jetzt fertige Erzieherin. Wozu denn noch mehr? Überkluge Mädchen waren als Haus- und Ehefrauen weniger beliebt, so die Volksmeinung. Vater Wüst seufzte, aber er gab natürlich nach. Die Wünsche seiner Kinder nahm er ernst. Wenngleich dieser Wunsch bedeutete, dass das liebe Lenchen, inzwischen mit 20 Jahren auch nicht mehr die Jüngste, noch immer kein eigenes Geld verdienen wollte. Er selbst kam auch allmählich in die Jahre. Seine Gesundheit war schon lange nicht mehr die beste. Diese Sorgen konnte Lene durchaus verstehen. Die Idee mit dem Abitur wollte Vater noch immer nicht recht schmecken. Das machte ein weiterer Brief der Eltern vom Juni 1909 deutlich. Wieder schrieb zuerst Vater, dann Mutter, wo noch Platz an Rändern, Kopf- und Seitenenden war.
Mein liebes Lenchen!
Ich habe mich über Deine Entschließung, das Abitur nachzuholen und zu studieren doch sehr gewundert. Das Entgegenkommen, das der Minister durch seine letzte Verfügung den Lehrerinnen beweist, lehnst Du ab. (Statt eines Examens wählst Du lieber garni, also Erzieherin im Privathaushalt). Statt einer Verbeamtung von fünf Jahren sprichst Du Dich für solche von sieben Jahren aus. Auch werden die Prüfungskommissionen auf solche Lehrerinnen, die das Abiturientenexamen gemacht haben, nicht die geringste Rücksicht nehmen, sondern sie behandeln wie die Kandidaten, die heut zu Tage mindestens acht Semester studieren, während man die Lehrerinnen, die für höhere Mädchenschulen geprüft sind und dann der letzten Verfügung entsprechend die Oberlehrerinnenprüfung ablegen wollen, mit einiger Nachsicht zu behandeln gar nicht abgeneigt sein dürfte. Vor allem glaube ich, dass Du Dir die Vorbereitung auf das Abitur-Examen zu leicht vorstellst. Dass Dich die Aussicht so vielen Kram in Mathematik, Chemie und Physik u.s.w. wieder in den Kopf „einzupremsen“ Dich nicht zurückschreckt!! Aber alles das, was ich eben ausgesprochen habe, soll Dich nur veranlassen, noch einmal alles zu überlegen. Falls Du wirklich von dem Wunsch beseelt bleibst erst noch das Abiturexamen zu machen, so werde ich Dir, soweit ich es vermag, zur Erreichung des Zieles behilflich sein: in Deines Vaters Hause wird stets eine Wohnung und Essen und Trinken, wo wir auch weilen, bestehen, nur dass ich den Abschluss Deiner Studien noch erleben sollte, ist ja sowieso nicht anzunehmen, später wohnst Du dann mit Mama zusammen. Dass Du zum 1. Oktober Streckentin verlässt, scheint mir, wenn Du die Oberlehrerinnenprüfung ablegen willst, ob so oder so, unerlässlich, und Herr und Frau Guhse werden ja ein Einsehen haben und Dir eine Kündigung Deiner Stelle nicht übelnehmen. Das ganze Mädchenschulwesen und alles, was drum und dran hängt, ist immer noch in der Entwicklung und man ist vor Überraschungen keinen Augenblick sicher. Ob schließlich die Mühe und Arbeit, die Du aufzuwenden gedenkst, im Verhältnis stehen wird zum pekuniären Erfolge, wer will es heute sagen. Ob ein dreijähriges Studium auf einer Malerakademie und das Examen für Zeichenlehrerinnen nicht den gleichen Erfolg bringen sollte, wobei freilich Begabung und Neigung eine Hauptrolle spielen, wer kann’s wissen. – Rieke Fuhrmann ist z.Z. so geschwächt, dass sie ihr Studium in Bonn abgebrochen hat und in Olivar weilt zur Erholung. Sie wird sich freilich in Crefeld bei der Pflege der Mutter erheblich angestrengt haben. Sonst nichts Neues von Paris.
Mit herzl. Gruß
Dein getreuer Vater E.L.W.
Ja, noch eins, liebes Lenchen! Deine beiden letzten Briefe haben uns eine große Freude gemacht. Wie schön, dass Du alles so mit Verständnis und Liebe zur Natur und zu den Menschen genießest. Die Tage in Stettin scheinen ja herrlich gewesen zu sein.
Mama schrieb dazu:
Mein liebes Lenchen! Deine Stelle in Streckentin musst Du unter allen Umständen zum 1. Oktober kündigen, ob Du nun so oder so das Examen machst. In den großen Ferien besprechen wir dann in Ruhe und nach allen Seiten hin die Sache. Dass ich alles tun will Dir Deine Wünsche zu erfüllen weißt Du, und selbst, wenn uns Papa, was Gott verhüten möge, früher verlassen sollte, als wir glauben, wird es mir immer möglich sein, die Kosten für Dein Studium zu bestreiten.
Das Baumkuchenrezept lege ich bei, so wie ich es Frau J. abgesehen habe, sie wollte es mir geben.
Gestern habe ich Zeug zu einer weißen Bluse gekauft, was sagst Du dazu? Mit herzlichen Grüßen, auch an Frau Steinert Deine tr. Mutter M. Wüst
Unser Garten ist ein Blütenmeer!
Lene lächelte liebevoll über solche Briefe, aber sie war jetzt alt genug, um die nachdenklichen Äußerungen zu verstehen. Die Eltern waren nicht mehr die Jüngsten, Papa bereits 65 Jahre alt, Mama 58. Im nächsten Jahr würde Papa wohl in den Ruhestand gehen. Die Hauptsorge der beiden angesichts ihres Alters war natürlich, ihre Kinder, auch die Jüngste, in gesicherten Verhältnissen zu wissen. Hauptsächlich aber sprachen die Briefe von uneingeschränkter Liebe gegenüber ihrer jüngsten, oft wohl verwöhnt anmutenden Tochter. Zugegeben, manchmal kam sie sich selbst immer noch wie das verhätschelte Nachkömmlings-Töchterchen vor, das seit jeher daran gewöhnt war, immer als etwas Besonderes zu gelten. Zumindest in der Familie. Und sonst auch? Ihre eigenen Ansprüche waren nicht gerade bescheiden, das sah sie ein. Aber konnte sie etwas für ihren ererbten, energischen Dickkopf?
Sie kündigte zum Oktober 1909.
„ Sie hat in dieser Zeit ihre Schülerin in der sechsten Klasse zu unserer vollen Zufriedenheit unterrichtet und hat es verstanden sich durch ein bescheidenes und entgegenkommendes Wesen die Zuneigung ihrer Hausgenossen zu erwerben. Wir sehen sie ungern scheiden und wünschen ihr für ihre Pläne das Beste“, so hieß es in Lenes Abschiedsbescheinigung.
Mutter freute sich, dass ihre Jüngste wieder nach Osterode ins alte Zuhause kam. Zwar nicht in ihre Küche, nicht um hier Haushaltung zu lernen, sondern an den Schreibtisch, um sich wiederum in die Bücher zu stürzen. Genauer gesagt: in die lateinischen, denn da wurde ein gewisses Pensum fürs Abitur verlangt. Wozu hatte Lene einen gelehrten Vater? Mit seiner Hilfe klappte das natürlich bestens.
Am 30. März 1910 attestierte er das offiziell:
„ Meine Tochter Maria Magdalena Wüst, die während ihres dreijährigen Aufenthalts auf dem Lehrerinnen-Seminar zu Elbing an dem dort erteilten wahlfreien lateinischen Unterricht regelmäßig teilgenommen hat, ist während der Ferien und im letzten Halbjahre täglich in einer Stunde im Lateinischen von mir unterrichtet worden. Sie hat die lateinische Schulgrammatik von H. J. Müller durchgearbeitet und eine große Anzahl von Stücken aus Ostermanns Übungsbuch (Tertia und Untersekunda der Realgymnasien) aus dem Deutschen ins Lateinische schriftlich oder mündlich übersetzt. Von lateinischen Schriftstellern hat sie gelesen 1. Cornelius Nepos, 2. Caesar, 3. Ovid, 4. Livero pro imperis Cn. Pompei, 5. Livius, Abschnitte aus dem 21. Buche, 6. Vergil, Abschnitte aus dem 2. Buche.
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