Es ist ein ständiges bewusstes und unterbewusstes Fehlen, ein Gefühl, welches ich nicht in Worte fassen kann. Ich merke, wie angespannt ich bin, kann aber nichts dagegen tun. Ich gehe davon aus, dass mir ein weiterer Besuch bei John helfen wird.
So gerne ich die Jungs mitnehmen würde, aber da drinnen, das ist nichts für sie. Die von John erwähnte Spielecke ist eine kleine Kiste mit fünf Bauklötzen und zwei Plüschtieren. Dafür interessieren sich die beiden keine fünf Minuten. Und was mache ich, wenn sie nach kurzer Zeit anfangen zu weinen oder herumtoben wollen? Dann wäre unser Treffen sehr schnell beendet und die weite Fahrt völlig umsonst. Nein, da muss John sich noch ein wenig gedulden mit dem Kennenlernen der Jungs, auf die er sich nach eigener Aussage schon so sehr freut.
Es ist der siebenundzwanzigste Juli. Ich rufe in Kaisheim an und möchte einen Besuchstermin ausmachen. Wir haben nur noch vier Tage Zeit für ein Treffen, denn Termine aufsparen für den nächsten Monat ist leider nicht möglich. Am Telefon erfahre ich, dass die Nachmittagstermine in den nächsten Tagen schon ziemlich voll sind und wir mit Sicherheit nur eine Stunde Besuchszeit bekommen würden.
Was bleibt mir also anderes übrig? Wieder müssen wir früh los. Ich rechne zurück. Acht Uhr fünfundvierzig Kaisheim, also muss ich spätestens um sieben in Landshut losfahren und um sechs Uhr aufstehen. Nic ist um diese Zeit sowieso wach, das ist kein Problem. Nur meine Mom wird nicht gerade begeistert sein. »Ist auch bestimmt nur dieses eine Mal, dass ich dir die Jungs so früh bringe«, verspreche ich ihr nichtsahnend.
Abends sichere ich den beiden einen Omi-Tag zu, wenn sie die ganze Nacht in ihren Betten schlafen. Es klappt. Alle sind ausgeschlafen und wir kommen pünktlich los. In Landshut bringe ich die Jungs nur schnell hoch und setze sie an den bereits gedeckten Frühstückstisch. Dass ich gleich weiter muss, stört sie überhaupt nicht. Im Gegenteil, als sie sehen, dass es Pfannkuchen gibt, bin ich sofort uninteressant.
Die erste Hürde in Kaisheim erwartet mich an der Lichtschranke. Schuhe, Gürtel, Uhr – alles habe ich bereits abgelegt, doch das dumme Ding piepst immer noch. Der Wärter fragt mich: »Haben Sie vielleicht einen Bügel-BH an?« Erstaunt fahre ich hoch und nicke beschämt. Er weist mich darauf hin, diesen ebenfalls auszuziehen und führt mich in ein kleines Kämmerchen. »Das ist jetzt nicht Ihr Ernst, oder?«, frage ich ihn entsetzt, bekomme aber keine Antwort. Ich fühle mich beinahe selbst schon wie ein Schwerverbrecher und kann das alles nicht glauben. Schließlich funktioniert es und ich darf mich in der Kammer wieder ankleiden.
Danach gebe ich noch einen Brief am Empfang ab. Wieder diese Frage: »Aber Geld ist keins drin, oder?« Immer noch ein wenig verlegen schüttle ich den Kopf und wundere mich, warum der mich jedes Mal fragt, ob da Geld im Umschlag ist? John hatte mir doch beim letzten Besuch erzählt, dass er beim Einkauf alles mit so einer Art EC-Karte bezahlt, auf der sein monatliches Gehalt drauf ist.
Mit dem Schlüssel von meinem Schließfach in der Hand werde ich durch die schwere Eisentür in Richtung Besucherraum entlassen. Heute muss ich gar nicht lange warten, da werde ich schon aufgerufen: »Besuch für Jackson!« Ich trete ein. John kommt auf mich zu und umarmt mich. Ich spüre seinen Atem in meinem linken Ohr. Mir ist es unangenehm vor den Wärtern. Ich löse mich von ihm und setze mich an den Tisch.
Ohne Anlaufprobleme kommen wir sofort ins Gespräch. Wir erzählen, flirten und nehmen uns gegenseitig aufs Korn, als wären wir seit Jahren zusammen und hätten uns nie aus den Augen verloren. Heute bin ich es, die sich ständig irritiert zu den Beamten umdreht, während John mich ununterbrochen verliebt anschaut. Ich bin augenscheinlich ziemlich nervös und spiele die ganze Zeit mit dem Schlüssel in meinen Händen.
Früher oder später macht John mich auf meine schwarzen Finger aufmerksam. Mir ist es peinlich, aber ich spiele trotzdem weiter. Irgendwann lege ich den Schlüssel genervt weg, greife aber nur wenig später unbewusst nach dem Besucherschein und lasse diesen von Hand zu Hand wandern. John bemerkt es mit einem Lächeln auf seinen Lippen, sagt aber nichts.
Was machen wir hier eigentlich? Das ist doch alles nicht wahr! Ich meine, es fühlt sich gut an, hier bei John zu sein, ja. Aber soll das jetzt wirklich die ganzen zwei Jahre so weitergehen? Dieser Aufwand, um eineinhalb Stunden zu quatschen?
John merkt, wie deprimiert ich bin und wie sehr mich unsere Situation mitnimmt. Um mich aufzubauen, erzählt er mir freudig, dass er eventuell mit einer Halbstrafe davonkommen könnte, genau wie einer seiner Kollegen diese Woche: »Das heißt, ich wäre schon im November nächsten Jahres bei euch.«
Leider kann ich darauf nicht so euphorisch reagieren, wie er es sich vielleicht erhofft hatte. »Aber das sind dann immer noch eineinhalb Jahre! Ich weiß momentan nicht einmal, wie ich die nächsten eineinhalb Wochen ohne dich überstehen soll«, platzt es aus mir heraus. John lächelt mitfühlend. Er kennt meine Ungeduld und beruhigt mich: »Davor haben wir ja noch Ausgänge und Urlaube und letztlich geht alles viel schneller, als du dir das im Moment vorstellen kannst. Wirst schon sehen, Süße.«
Nicht wirklich überzeugt wechsle ich das Thema. Darum bemüht, ebenfalls positiv zu klingen, berichte ich ihm anschaulich von den letzten Tagen mit den Jungs, ihren Erlebnissen im Kindergarten, wie gerne die beiden zum Baden gehen und wie schön es wäre, diese Zeit mit John gemeinsam zu erleben.
Viel zu schnell ist auch dieses Treffen wieder vorbei. Wir werden dazu angehalten, uns jetzt zu verabschieden. Gleichzeitig stehen wir auf. John kommt um den Tisch herum, nimmt mich in den Arm und verpasst mir einen dicken Kuss direkt auf den Mund.
Ich bin völlig perplex. Ich wusste weder, dass so etwas hier drin erlaubt ist, noch hatte ich mit dieser Aktion von John gerechnet. Meine Überraschung steht mir wohl mitten ins Gesicht geschrieben. Zur Bestätigung zieht er mich erneut zu sich heran, sagt mir, wie sehr er mich vermisst hat und gibt mir zum Abschied gleich noch einen zärtlichen Kuss.
Dann muss er wirklich los. Wieder geht John in die andere Richtung des Ganges, doch heute schaue ich ihm nicht hinterher. Das muss ich erst einmal sacken lassen. Auf direktem Weg gehe ich zur Toilette. Dort bleibe ich zunächst einfach nur sitzen. Ich bin total durcheinander.
Wow! Vierzehn Jahre ist es her, dass wir uns zuletzt geküsst hatten. Vierzehn Jahre ist es her, dass ich diese Art von Schmetterlingen im Bauch hatte, die ich jetzt wieder spüre. Ist es John tatsächlich genauso ernst wie mir? Klingen, schreiben und nun auch noch handeln tut er auf jeden Fall so.
Glücklich, aber trotzdem irgendwie angespannt, verlasse ich das Gebäude. Zu viele Gedanken schwirren seit dem Kuss in meinem Kopf herum, wieder einmal, und nichts kann sie stoppen.
Normalerweise möchte man dieses Erlebnis doch gemeinsam genießen und die Zeit danach zusammen verbringen. Das Gefühl, welches ich jetzt verspüre, ist ein wenig vergleichbar mit dem, wenn man abends ganz überraschend einen Abschiedskuss von seinem Schwarm bekommt und dann allein nach Hause geht. Diese Gedanken, die man danach die ganze Nacht bis zu einem zeitnahen Treffen oder Telefonat hat, sind es, die ich jetzt erlebe. Nur haben wir leider kein zeitnahes Treffen geschweige denn ein Telefonat in Aussicht. Wir werden uns erneut wochenlang weder sehen noch sprechen.
Ich gehe zurück zum Auto, nehme die winzige Abkürzung über den Grünstreifen, da spüre ich unter meinem linken Fuß etwas Weiches. Trotz meines instinktiven Aufschreis: »Verdammt! So ein Mist!«, war ich noch nie so glücklich, in Hundescheiße gestiegen zu sein.
Zurück in Landshut springen mir die Kinder in den Arm, als wären wir tagelang getrennt gewesen. Ein herrliches Gefühl, obwohl ich nur wenige Stunden fort war. Nach einem gemeinsamen Mittagessen mit meiner Mom, fahren wir drei zurück nach Aham. Die Jungs schlafen im Auto sofort ein.
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