Eine Mischung aus Machtlosigkeit und innerer Unruhe überkommt mich. John weiß genau, wie sehr er mich mit dieser Aussage trifft. Manchmal glaube ich, er hat alles, was ich für ihn getan habe, schon vergessen.
Ich gehe raus auf den Hof und rufe meine Mom an. Ihr Rückhalt tut mir gut: »Natürlich ist eine Firmengründung ohne fremdes Startkapital nicht leicht. Aber John arbeitet wirklich hart für euch. Meine Kollegen können nicht fassen, dass er bereits nach drei Monaten die erste Zeitschrift veröffentlicht hat.« »Mhm, ja«, gebe ich zu, »das war wirklich schnell. Auch die Verkaufszahlen steigen noch immer an. Und unsere Fans im Netz übertreffen alles, was wir uns im Vorfeld erhofft haben.«
Langsam hebt sich meine Laune wieder etwas. »Ach ja, und weißt du was? Das Autohaus hat endlich einen Käufer für den Porsche.« Ich kann ihre Freude durchs Telefon förmlich spüren: »Das ist ja prima! Danach wird es euch besser gehen. Weißt du, John bedrückt es wirklich sehr, dass er dir immer noch auf der Tasche liegt. Das sagt er mir ständig.« »Ich weiß schon, mir auch. Ich will ja gar nicht so oft nachfragen, nur nervt es mich halt, wenn noch immer alle Ausgaben an mir hängenbleiben. Er bekommt doch jeden Monat Arbeitslosengeld und zusätzlich den Zuschuss für Unternehmensgründer. Naja egal, ich muss mich beeilen, die Jungs abholen.«
Zurück in der Wohnung erzählt mir John, dass er diesen Monat die Miete übernehmen möchte. Ganz erstaunt frage ich, ob das wirklich okay für ihn ist, jetzt wo das nächste Heft übermorgen in den Druck geht. Wieder keimt in mir ein schlechtes Gewissen auf und ich habe keine Ahnung warum.
Für unsere nächste Ausgabe beauftragt John überraschend eine andere Druckerei. Komisch, dabei war er doch so zufrieden mit dem ersten Heft. Aber diese Druckerei bietet wohl für denselben Preis ein sehr viel hochwertigeres Papier an. Mir soll’s recht sein, dieses Mal übernimmt er ja die Kosten für den Druck.
Vor der nächsten Lieferung müssen wir uns um die unzähligen alten Hefte kümmern. Die liegen immer noch bei uns auf der Treppe. Ich möchte sie lieber heute als morgen entsorgen. John schüttelt den Kopf und will sie unbedingt aufheben. Im Keller wäre doch genug Platz. Ich verstehe nicht, wozu wir die alten Hefte aufheben müssen. Die interessieren keinen Menschen mehr. Außerdem stinken sie uns dann auch noch den Keller voll. John möchte sie für Marketingzwecke nutzen und hat sie seinem Freund Kai versprochen. Dieser hat ein Matratzengeschäft und will bei jeder Matratze, die er verkauft, ein Heft von uns dazulegen. Der »Matratzen-Kai«, wie John ihn nennt, ist wohl auch der einzige, der letztlich im ersten Heft für Werbung gezahlt hat.
Drei Tage später ist die neue Lieferung da. Wieder das gleiche Spiel, zwei große Paletten mit Zeitschriften stehen vor der Haustür. John ist in München und kommt voraussichtlich erst am Abend zurück. Mir bleibt noch genug Zeit, die Kartons nach oben zu tragen, bevor ich die Jungs aus dem Kindergarten abholen muss. Ich frage mich nur, warum John erneut so viele Exemplare zu uns bestellt hat. Nach gut einer Stunde treppauf treppab habe ich alle Hefte hochgeschleppt. Geschafft gehe ich duschen.
Danach blättere ich noch kurz durch unsere neue Zeitschrift. »Sieht echt nobel aus«, denke ich mir beim Durchblättern. Dabei kommen mir Lindas Worte in den Sinn: »Normalerweise steht ein riesiges Team hinter jeder Zeitschrift. Das ist unfassbar, dass ihr das alles zu zweit stemmt.« Bei diesem Gedanken werde ich traurig. Seit Wochen habe ich nichts von ihr gehört. Selbst ihre Eröffnungsfeier vom Laden habe ich nur hinterher im Internet verfolgen können, es waren hunderte von Gästen geladen, nur wir nicht. Was ist nur geschehen? Wir wohnen im selben Ort und sehen uns nie.
Enttäuschung an Weihnachten
Es ist unser erstes gemeinsames Weihnachtsfest seit Johns Entlassung. Letztes Jahr stand ich die ganzen Feiertage unter Hochspannung. Gleich nach dem Fest musste er wieder zurück ins Gefängnis und erst drei Wochen später sollte endlich seine Anhörung für eine vorzeitige Entlassung stattfinden. Zuvor hatte ich diesem Termin zwei Monate immer wieder neu entgegengefiebert. Der Ausgang dieser Anhörung war absolut ungewiss.
Aber dieses Jahr sind wir alle zusammen, John ist bei uns und wir haben die härteste Zeit unseres Lebens hinter uns gelassen. Morgen kommt meine Mom, die Jungs sind heute noch bei ihrem Vater und werden pünktlich zur Bescherung hier sein. Ich möchte mich freuen und lege alle Geschenke unter den Weihnachtsbaum.
Die letzten Tage waren für uns beide nicht leicht. Es kommt mir vor, als ignoriert John meine finanziellen Sorgen komplett. Entgegen seiner Zusage, diesen Monat die Miete zu übernehmen, wurden erneut alle laufenden Rechnungen von mir abgebucht. Wenn ich ihn darauf anspreche, weicht er mir aus. Dabei hat er in seinen Briefen stets geschrieben, dass wir immer über alles reden können.
Und jetzt? Der Autoverkauf, der Uhrendeal, seine Kunden von früher, alle angekündigten Einnahmen verzögern sich. Sein einziger Kommentar dazu: »Das musst du verstehen, die zahlen leider alle erst im neuen Jahr.«
Morgen ist Heiligabend. Warum nur stellt sich bei mir auch in diesem Jahr keine echte Vorfreude ein? Seit Wochen bereite ich alles vor, kümmere mich um die Geschenke, den Baum, Plätzchen backen, das Essen und natürlich die Kinder. John ist die ganze Zeit oben im Büro. Ab und zu kommt ein Post auf Facebook, der ihm jedes Mal überraschend viele Likes einbringt. Ansonsten ist es ruhig.
Meine Mom kennt meine Sorgen. Sie möchte uns helfen und erklärt mir: » Lara, Künstler arbeiten ganz anders als wir und auch zu anderen Zeiten. Erst letzte Nacht, als ich auf die Toilette musste und nicht gleich wieder einschlafen konnte, habe ich gesehen, dass John immer noch online ist. Er möchte für euch etwas aufbauen, dir endlich das zurückgeben, was du all die Jahre für ihn getan hast.«
Sind meine Ängste also unberechtigt? Vielleicht bin ich ja wirklich zu ungeduldig. Genau wie letztes Jahr versuche ich meine Sorgen weit wegzuschieben.
Endlich ist Weihnachten, die Jungs kommen aufgeregt nach Hause. Beim Abendessen hält es sie kaum noch auf ihren Sitzen. Sie rennen in den Hausflur, sie wollen nur kurz nachsehen, ob der Weihnachtsmann schon da war. Gleich nach dem Essen müssen sie in ihr Zimmer. John zündet die Kerzen an, alle Geschenke liegen unter dem Baum und dann ist es so weit. Zwei nicht mehr zu bremsende Kinder stürzen ins Wohnzimmer. Zunächst werden sie noch dazu genötigt, drei Weihnachtslieder zu singen. Danach sagen sie brav ihre Gedichte auf. Felix‘ Blick weicht die ganze Zeit nicht von den Geschenken. Seine Augen leuchten.
Endlich dürfen sie auspacken. Auch ich werde reich beschenkt, allerdings nur von meiner Mom. Und John? Er freut sich über seine neuen Klamotten. Meine Mom schenkt ihm drei neue Hemden für die Arbeit, von mir bekommt er Hosen und Pullis.
Für uns jedoch? Hat John nichts. Ich lasse mir meine Enttäuschung nicht anmerken. Dennoch macht es mich traurig, dass er nicht einmal an die Kinder oder an meine Mom gedacht hat. Früher hat er immer geschrieben, dass wir uns für die beste Schwiegermutter der Welt etwas ganz Besonderes einfallen lassen müssen. So oft hat sie uns in den letzten Jahren aus der Patsche geholfen. Wann immer wir sie brauchten, hat sie uns die Kinder abgenommen. In seinen Briefen wusste John ihre Hilfe stets zu schätzen. Und jetzt? Ich versuche nicht weiter darüber nachzudenken und freue mich über die glücklichen Jungs.
Den Rest des Abends spielen wir die neuen Spiele. Des Öfteren suche ich Johns Nähe, doch er fühlt sich, glaube ich, nicht wohl. Vielleicht ist es ihm peinlich, dass wir so viel für ihn hatten, aber er nichts für uns. Er tut mir leid.
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